Liebe in Zeiten von Altersflecken
– Das Debüt von Inger-Maria Mahlke erzählt eine der ungewöhnlichsten Beziehungsgeschichten der jüngeren Literatur; Frank Schorneck ist angetan.
Der pensionierte Polizeibeamte Hermann Mildt nimmt widerwillig die in Not geratene Polin Jana Potulski für ein paar Tage bei sich auf. Sie hat ihn ein wenig überrumpelt, er will eigentlich seine Ruhe haben und ist extrem misstrauisch. Er glaubt kein Wort ihrer Geschichte, ist besessen von der ständigen Angst, von ihr ausgenutzt und ausgeraubt zu werden. Andererseits ist es auch nicht schlecht, eine Frau im Haus zu haben. Frau Potulski macht sich nützlich, putzt und kocht und es gibt vorsichtige körperliche Annäherungen, die man nicht wirklich erotisch nennen möchte.
Mildt ist angewidert und angezogen zugleich von den herabhängenden Schläuchen, die einmal feste Brüste waren: „Seine Hand sah absurd aus, seine Hand mit den braunen Altersflecken und den Aderschnüren bewegte sich vorwärts, schräg nach oben, an dem Regal mit den Handtüchern vorbei, an der Dose mit den Ohrstäbchen, dem hellblauen Wattepaket. Die Schläuche waren warm, er berührte sie mit den Fingerkuppen, strich hinab, aber als er die Augen schloss, fühlten sie sich richtig an. Blitzschnell und aus der Tiefe: richtig.“
Doch wie ein pensionierter Blaubart birgt der leidenschaftliche Hobbyfotograf auch ein dunkles Geheimnis, auf das Jana Potulski beim Aufräumen in der Dunkelkammer stößt: Als Hermann Mildt eines Tages von der Arbeit nach Hause kam, lag seine Frau leblos im Garten, gestorben beim Aufhängen der Wäsche. Mildt holte keinen Arzt, nicht die Kollegen, sondern seinen Fotoapparat…
Er dokumentiert Tag für Tag fotografisch die Veränderungen der Leiche, die vielfältige Fauna, die langsam von dem Körper Besitz ergreift – bis ein Nachbarshund Witterung aufnimmt und die Kollegen angerückt kommen. Ein Verbrechen ist ihm nicht nachzuweisen, doch sein Gesuch um Frühpensionierung wird dankend angenommen.
(Dunkel-)Kammerspiel zwischen Einsamkeit und Paranoia
Mit penibler Besessenheit betreibt Mildt Der ehemalige Polizist stellt sich seine eigenen Koordinaten für das Leben, für Gerechtigkeit zusammen. Umweltverschmutzer will er auf die Straße schubsen; wenn die Bahn zu spät kommt, kauft er keine Fahrkarte. In seinem Misstrauen gegen Jana Potulski traut er seinem Gast sogar einen Mord zu, nimmt er sie ins Verhör. Aus beider Biographien streut die Autorin Puzzlestücke in die Geschichte, sei es innerhalb der Dialoge oder in Form eines Buches, das ungelesen im Regal steht. Themen wie Vertreibung und deutsch-polnische Annäherung stehen im Raum, bleiben jedoch Randnotizen der Geschichte.
Inger-Maria Mahlke ist mit ihrem Debüt ein (Dunkel-)Kammerspiel zwischen Einsamkeit und Paranoia gelungen, eine Liebesgeschichte, die sich weigert, eine solche zu sein. Wie sich ihre beiden Protagonisten gegenseitig umkreisen, wie Magneten einander anziehend und im nächsten Moment wieder abstoßend, ist mit großem psychologischem Gespür geschildert. Dabei macht die Autorin nicht den Fehler, zu viele Erklärungen zu geben, das Handeln ihrer Figuren zu interpretieren. Gerade in seiner Undurchschaubarkeit und Unberechenbarkeit, in seinem unbeholfenen Taumel zwischen Sehnsucht und Argwohn macht ihn zu einer besonders tragischen und anrührenden Figur, die dem Leser zwar nie wirklich sympathisch wird, aber dennoch ans Herz wächst.
Frank Schorneck
Inger-Maria Mahlke: Silberfischchen. Aufbau Verlag 2010. 200 Seiten. 16,95 Euro.