50 Schatten über Grey
Nein, der dritte Roman von Inger-Maria Mahlke macht es seinen Lesern nicht leicht. Wer historische Romane im Stil der „Päpstin“ schätzt, dürfte schnell irritiert sein angesichts einer zersplitterten Erzählperspektive und der Diskrepanz zwischen historischem Setting und moderner Sprache. Und wer die ersten beiden Romane von Inger-Maria Mahlke kennt, die beide Gegenwartsthemen verhandeln, dürfte sich verwundert die Augen reiben. Die Autorin führt uns ins Jahr 1571 an den englischen Hof. Was also ist „Wie ihr wollt“, dessen Titel nicht von ungefähr auf Shakespeare anspielt?
Auch wenn auf den inneren Umschlagseiten ein ausführlicher Stammbaum die Thronfolgen, Eheschließungen und Hinrichtungen am englischen Hof des 16. Jahrhunderts anschaulich macht, bedarf es einiger Arbeit, sich einen Weg durch die Namen, Titel und das vertrackte Ränkespiel zu bahnen. Und so kommt – zumindest, wenn einem die englische Geschichte trotz aller von Shakespeares Königsdramen geprägter Bildung nicht allzu vertraut ist – der Lesefluss zunächst nur schwer in Gang. Dabei hat sich Inger-Maria Mahlke einer durchaus faszinierenden geschichtlichen Figur angenommen: Mary Grey, eine englische Adlige und jüngste Tochter von Lady Frances Brandon aus ihrer Ehe mit Henry Grey, 1. Duke of Suffolk. Über ihre Mutter war sie eine Enkelin Mary Tudors, der jüngeren Schwester Heinrichs VIII. Damit standen sie und ihre älteren Schwestern Catherine Grey und die Neuntagekönigin Jane Grey in der Thronfolge direkt hinter Maria I. und Elisabeth I. Wie ihre Schwester Catherine fiel sie unter Königin Elisabeth in Ungnade und wurde von ihr jahrelang gefangen gehalten. An dieser Figur beschreibt Mahlke individuelle Vereinsamung und gesellschaftliche Brüche und Zwänge.
Wir schreiben das Jahr 1571 und Mary Grey befindet sich auf Anweisung von Königin Elisabeth I, der „nicht ganz so lieben Cousine“ bereits seit Jahren in Hausarrest. Ihr Vergehen ist eine vom Hofe nicht genehmigte Heirat, eine Handlung, die im Falle von Nachkommen möglicherweise Thronansprüche begründet hätte. Auch wenn sie selbst aufgrund ihrer Kleinwüchsigkeit nicht ernsthaft als Königin in Betracht käme, hätten männliche Nachkommen die Erbfolge wieder neu geordnet. Ihr Ehemann, den sie seit 1565, dem Jahr seiner Inhaftierung nicht mehr gesehen hat, ist gerade gestorben; Ihr Wunsch, dessen Kinder aus einer früheren Ehe wie ihre eigenen aufziehen zu dürfen, wird ihr verwehrt. Der Rest ihrer nahen Verwandtschaft ist ebenfalls tot, nicht wenige wurden hingerichtet. In ihrer erzwungenen Isolation beginnt sie, ihre Geschichte niederzuschreiben. In ihren Notizen bedient sie sich stets wechselnder Tonfälle, sucht Distanz zur eigenen Biographie. So handelt sie in kurzen „Es war einmal…“-Absätzen einen großen Teil der ganz und gar nicht märchenhaften Vorgeschichte ab, greift sich später Schlagworte wie „Trauer“, „Verwandtschaft“, „Artig“ oder „Besuche“ heraus, um sich prägenden Lebensstationen zu nähern. Zwischendurch schreibt Mary Grey flehende Briefe an die ungeliebte Cousine. Sie fordert Respekt und Demut von ihrem Umfeld ein (sie beobachtet genau, wer sich wie tief verbeugt), ist sich jedoch andererseits sehr wohl ihrer eigenen Machtlosigkeit bewusst.
Die Manuskripte Mary Greys machen jedoch nur einen Teil des Romans aus. Gleichzeitig wird die Geschichte eines besonderen Verhältnisses dargestellt – allerdings ebenfalls aus der Ich-Perspektive Mary Greys: Das Dienstmädchen Ellen nimmt eine ungewöhnlichen Doppelfunktion ein, sie ist Dienerin und Wächterin zugleich. So wechselt in Marys Augen ihr Status von der einer Vertrauten unversehens zu der einer argwöhnisch beäugten Gegnerin, der nicht zu trauen ist. Da mag der Kampf ums Anziehen von Schuhen noch spielerisch sein – wenn Mary ihre Aufzeichnungen in Gefahr wähnt, grenzt dies an Existenzängste. So umkreisen sich zwei starke, aber in ihren Rollen gefangene Charaktere in diesem Kammerspiel, verletzen und trösten sich gegenseitig. In diesen Machtkämpfen tritt der bittere Humor, der auch Mahlkes erste Romane durchzogen hat, am deutlichsten zu Tage.
Über das individuelle Einzelschicksal hinaus schildert der Roman auch eine religiöse Umbruchphase Englands. Die 1531 wegen der päpstlichen Weigerung, die Ehe Heinrichs VIII. zu annullieren, eingeleitete englische Reformation wurde von der ihren Beinamen nicht grundlos tragenden „Blutigen Maria Tudor“ zunächst gestoppt. Die Frontlinien verlaufen nicht nur zwischen den Familienzweigen, sondern auch zwischen Katholiken und Protestanten. Das Henkersbeil sitzt locker und hinter manchem Durchfall mag ein Giftanschlag stecken.
Stark ist der Roman vor allem im „Journal“ der Mary Grey. Wie die drei Grey-Schwestern, die im Bewusstsein königlichen Erbes aufwachsen, die „Möglichkeiten“ der Thronfolge in ihr kindliches Spiel aufnehmen, wie tradierte Rollenmuster eingeübt werden und die Mädchen im Kindesalter auf die Perspektive Hochzeit und Kinderkriegen hin konditioniert werden, beschreibt Mahlke in außergewöhnlichen Bildern. Sehr bewusst bricht sie die Erwartungen und nutzt keine historisierende Sprache. Ihr moderner, zuweilen sogar umgangssprachlicher Stil steht in krassem Kontrast zu den geschilderten Intrigen, zum höfischen Postengeschacher. So schlägt Mahlke den Bogen von einem Stoff, der womöglich zunächst Liebhaber historischer Romane locken dürfte, zur Gegenwart. Dabei geht es jedoch um weit mehr als nur um moderne Königshäuser: Auch auf dem politischen Parkett, in der Gesellschaft oder im Showgeschäft gelten Gesetze, die gar nicht so weit vom Elisabethanischen England entfernt sind wie man irrigerweise glauben mag. Und ob sich in Zeiten der Frauenquote die Rollenklischees und –Erwartungen wirklich maßgeblich verschoben haben, bleibt fraglich.
Frank Schorneck
Inger-Maria Mahlke: Wie ihr wollt. Berlin Verlag, 2015. 272 Seiten. 19,99 Euro