Geschrieben am 19. August 2004 von für Bücher, Litmag

Iso Camartin: Jeder braucht seinen Süden

Nichts wie hin zum Süden

Schon immer war der Süden mehr als nur eine geographische Angabe der Himmelsrichtung. Mit der Metapher des Südens verbinden sich die ureigensten Sehnsüchte vor allem der im Norden lebenden Menschen. Dies haben viele Autoren erkannt, allen voran Iso Camartin, der in seinem Band „Jeder braucht seinen Süden“ viele Variationen der Süd-Metapher durchspielt.

Sommerzeit. Reisezeit. Ab in den Norden. – Irgendwie paßt das nicht zusammen. Jüngst erhielt ich eine Postkarte von einem finnischen Freund. Seine Familie würde sich schon auf den Sommerurlaub im Süden freuen. Und mit dem Süden meinte er eine kleine Insel vor der schwedischen Südküste. Jede Ortsbezeichnung ist relativ. Für einen norwegischen Fischer ist Husum eine südliche Stadt am Meer. Und für einen Leipziger beginnt der Süden kurz hinter dem Brenner bei Brixen. Thessaloniki ist für einen Athener eine kalte nördliche Stadt.

Die Utopie des Reisens

Aber wo auch immer man den Süden beginnen läßt, eine Metapher für Fernweh, Leichtigkeit und Verführung ist er allemal. Wer käme im Ernst auf die Idee, Finnland als der Deutschen Sehnsuchtsland zu bezeichnen, obwohl dessen landschaftliche und kulturellen Reize unbestritten sind. Die Dokumente der jüngeren Literaturgeschichte sowie auch die Statistiken von Reiseveranstaltern sprechen da eine andere, eindeutigere Sprache.
Wenn der Philosoph Ernst Bloch in seinem Hauptwerk „Das Prinzip Hoffnung“ von der Utopie des Reisens spricht, dann verläßt der sehnsuchtsvoll Reisende fast immer den ‚dunklen Norden‘, um Heimat und Heilung des Fernwehs im nicht näher lokalisierten Süden zu finden oder wenigstens zu erwarten. „Man muß holen, was man braucht“, schreibt Bloch. „Wenig wird uns geschenkt. Nur noch südlich lebt man halbwegs von selber und gerade.“
Jeder braucht seinen Süden und wenn es auch nur der eingebildete und erträumte Süden ist. Der wirkliche Süden ist oft fürchterlich: die vollkommen verbaute Adria-Küste, der horrende Straßenverkehr in Marseille, der Dauersmog in Athen, die gnadenlose Sommerhitze in Madrid, der infernalische Krach in Neapel. Alles das ist auch der Süden und jeder weiß es – trotzdem im Sommer nichts wie weg in den Süden.

Wo man lebt, ist niemals Süden

Dort, wo für Bloch der Süden begann, irgendwo in den Bergen zwischen der schweizerischen und der italienischen Grenze, ist auch die Geburtsheimat von Iso Camartin. Was dem nördlichen Philosoph das Land seiner Sehnsucht war, ist dem schweizerischen Schriftsteller selbstverständliches Zuhause. Aber auch im Engadin treibt es ihn hinaus in den Süden. Da, wo man lebt, ist niemals Süden. Vielleicht kann man sich auf diese Definition einigen.
Ist es ein Zufall, dass die Texte des heute in Zürich lebenden Autors, der zudem das Kulturprogramm des Schweizer Fernsehens leitet, auch bei ernsteren Themen immer eine so mitreißende Leichtigkeit, eine so verführerische Helle, eine so heitere Intelligenz ausstrahlen? Camartin scheint seine Bücher so zu schreiben, daß sie auch noch bei schwüler Hitze im Schatten sitzend einfach so en passant gelesen werden können. Und er vermag schon in der Widmung eine Neugierde zu wecken, die einen dann so leicht wie eine milde Flußströmung in den Text hineinzieht.
„Jeder braucht seinen Süden“, den schmalen Band mit Plädoyers für den Süden, hat Camartin den „Schwestern, Töchter und Freundinnen, die im Norden wohnen“ gewidmet. Vielleicht vermutet er unter ihnen die sehnsüchtigsten Verehrer alles Südlichen, wo immer man es auch lokalisiert. „Italia und Germania“ jenes berühmte Bild von Franz Overbeck, zeigt zwei sich liebevoll zuneigende Frauen. Wo ist das vergleichbare Bild zweier Männer ?

Eine passionierte Sinnenreise durch den Süden

Iso Camartin präsentiert eine ebenso kluge wie passionierte Sinnenreise durch die Welt des Südens, wo auch immer man ihn nun genau lokalisiert. „Der Süden ist in der Dichtung jener Ort, wo das Geschriebene und Gehörte dir die Seele am spürbarsten weitet“. Und für den Autor hat dieser Ort auch einen Namen: Dante. Wer in das Werk Dantes von einem kompetenten Verführer hineingeführt werden möchte, leicht und milde gestimmt die Höllenpforte durchschreiten will, soll sich hier Camartin anvertrauen. Der Süden, das ist für den Autor auch der Tango Argentiniens und die Bibliothek von Jorge Luis Borges. „Sur ist die Poesie von Borges und die Musik von Piazolla. Nichts mehr und nichts weniger.“
Wer Bücher liebt, sollte sie möglichst ohne Hintergrundbeschallung lesen. Aber es gibt Ausnahmen, die vielleicht gerade erst durch plätschernde Musikbegleitung sich voll entfalten. Nicht nur Piazolla, auch Debussy oder Ravel oder die verzaubernde Musik für Oud des Anouar Brahem sollte man auflegen, um sich mit Camartin einfach mal so richtig in den Süden, wo immer man ihn auch gerade lokalisiert, entführen zu lassen.
Der Süden, das sind auch die Bilder von Cezanne oder von August Macke, von Picasso wie von Edvard Munch – ja auch dieser nordische Maler par excellence hat hinreißende Mittelmeer-Bilder gemalt. Der Süden, das ist für Camartin vor allem auch Sizilien. Immer und immer wieder kommt er auf seine persönliche ‚Terra promessa‘ zurück, diese von der Natur so reich beschenkte und von der Geschichte so grauenvoll gemarterte Insel zurück. „Il Gattopardo“, der Leopard von Tomasi di Lampedusa, ist das vielleicht südlichste Werk der jüngeren europäischen Literaturgeschichte. „Im Grunde ist der Roman des Tomasi di Lampedusa nichts als eine Anleitung, wie man Schönheit zu entdecken hat inmitten eines Lebens, das auch vieles anderes kennt.“
Süden, das kann auch eine Metapher sein für den Verlust seiner Sinne. Nietzsche, ein großer Liebhaber des Südens, umarmte bar jeder Vernunft, einen Droschkengaul inmitten von Turin. Wie kann man sich der Schönheit, dem Liebreiz, dem Licht des Südens nähern, ihnen Hymnen singen, ohne dabei nicht hin und wieder verrückt zu werden? Jeder will einmal weg aus seinem nördlichen Kerker. Sommerzeit. Reisezeit. Ab in den Süden. Jeder braucht ihn – auch wenn der wirkliche Süden oft nördlicher, kühler, trister ist als man es sich erhofft hat. Und der Norden bei unserer Rückkehr farbiger, lebendiger, reizvoller ist als er uns bei der Abfahrt in den Süden erschien. Nächstes Jahr treffen wir uns wieder – im Süden natürlich.

Carl Wilhelm Macke

Iso Camartin: Jeder braucht seinen Süden. Suhrkamp, 2003. Gebunden. 120 Seiten. 15 Euro.