Versprechen und Verschwendung
In seinem autobiografisch geprägten und posthum veröffentlichten Roman Ein Todesfall in der Familie schildert James Agee die alltägliche Erfahrung von Tod, Verlust und Einsamkeit aus den unterschiedlichen Perspektiven der Familienmitglieder. Jörg Auberg hat die Neuauflage dieses wichtigen amerikanischen Romans gelesen.
Als James Agee am 16. Mai 1955 im Alter von nur 45 Jahren in einem New Yorker Taxi an einer Herzattacke starb, hinterließ er ein unvollendetes Werk. „Er war ein Genie – unser einziges Genie“, urteilte F. W. Dupee als Sprachrohr der New Yorker Intellektuellen, zu dessen äußerem Kreis Agee zählte, über ihn. Obwohl er als Autor des elegisch-dokumentarischen Werkes Let Us Praise Now Famous Men (1941) und Drehbuchautor des Klassikers African Queen (1951) reüssierte, galt er doch als Schriftsteller, der mit einem großen Talent gesegnet war, es aber im Journalismus vergeudete. Das Versprechen endete tragisch in der Verschwendung eines Lebens, das nicht ausreichte, um den autobiografisch geprägten Roman, an dem er sieben Jahre arbeitete, abschließen zu können.
Zersplitterte Erzählperspektive
Obwohl Agees langjähriger Freund Dwight Macdonald im „New Yorker“ dem im Jahre 1957 erschienen und mit dem Pulitzer-Preis ausgestatteten Roman die Einstufung als „bedeutendes Werk“ verweigerte und die „Längen“ des Buches bemängelte, gehört Ein Todesfall in der Familie zweifelsohne zu den herausragenden Beiträgen zur amerikanischen Literatur des letzten Jahrhunderts. Erzählt wird eine alltägliche Geschichte aus der amerikanischen Provinz in der Zeit des Ersten Weltkrieges: Eines Abends klingelt bei Jay Follet das Telefon, und sein nicht mehr ganz klarer Bruder Ralph teilt ihm mit, ihr Vater liege im Sterben. Noch in der Nacht bricht Follet mit dem Versprechen auf, am nächsten Abend wieder zu Hause zu sein, verunglückt jedoch auf der Heimfahrt. Am nächsten Morgen klingelt erneut das Telefon im Hause Follet, um Jays Frau Mary die Nachricht vom tödlichen Unfall ihres Mannes zu übermitteln. Die nächsten Stunden verbringt Mary zwischen Hoffen und Bangen, doch schließlich müssen nach der traurigen Gewissheit die Vorbereitungen für das Begräbnis getroffen werden.
Seine Stärke bezieht der Roman aus seiner zersplitterten, weit gefächerten Erzählperspektive. Obgleich Jays kleiner Sohn Rufus – hinter dem sich Agee verbirgt – eine bevorzugte Stellung in der Geschichte einnimmt, beschränkt sich Agee nicht darauf, den Tod und die Tage bis zum Begräbnis aus der Sicht des Kindes zu schildern, sondern bietet ein Panorama disparater, vielschichtiger, auch widersprüchlicher Erfahrungen der Familienmitglieder. Wie der frömmelnden Mutter Mary, deren Bruder Andrew und Vater Joey, die die atheistische Fraktion der Familie repräsentieren; Tante Hannah; Rufus’ kleiner Schwester Catherine sowie Jay selbst im ersten Teil des Buches, der den Abend des Unfalls beschreibt, sodass Agee trotz der Langsamkeit des Erzählflusses eine spannungsreiche Schattierung des Geschehens gelingt, in dessen Verlauf letztlich jeder auf die eigene Einsamkeit in der Trauer zurückgeworfen ist.
Fundstücke aus dem Nachlass
In Deutschland erschien Agees Roman im Jahre 1962 unter dem Titel Ein Schmetterling flog auf in der Übersetzung von Gerda von Uslar. Ihr warf Walter Boehlich in der „Zeit“ vor, sie biege Agees Stil mit der Ästhetik des deutschen Schulaufsatzes zurecht. Der Verlag C. H. Beck bietet die Neuauflage des Romans in einer überarbeiteten Übersetzung mit einem erläuternden Nachwort von Blake Morrison aus der englischen Penguin-Ausgabe aus dem Jahre 2006 an. Allerdings ohne mit einem Wort zu erwähnen, dass mittlerweile – im Rahmen der bei der University of Tennessee Press auf zehn Bände angelegten Agee-Werkausgabe – eine von Michael Lofaro herausgegebene restaurierte „Autoren-Version“ vorliegt, die mit der Legende aufräumt – die auch Boehlich wiedergibt –, der ursprüngliche Herausgeber David McDowell sei mit dem fast vollendeten Roman „so schonungsvoll wie möglich“ umgegangen. McDowell wollte der Witwe und den Kindern Agees mit der Herausgabe des Romans neue Einkommensmöglichkeiten erschließen und eliminierte mit den besten Intentionen jene Stellen, von denen er mutmaßte, sie würden von einem größeren Publikum nicht goutiert. Für die restaurierte Version spürte Lofaro mehr als zehn Kapitel auf, die sich im Nachlass McDowells fanden, sodass der Roman anstelle der 20 Kapitel 44 Kapitel aufweist. Darüber hinaus restaurierte er die Passagen, in denen Agee den East-Tennessee-Dialekt verwendete, und während McDowell den vorher publizierten Text „Knoxville, Sommer 1915“, der nicht zum ursprünglichen Manuskript gehörte, dem Roman als Einleitung voranstellte, nutzt Lofaro für seine Ausgabe einen surrealen Text des Autors, in dem der erwachsene Agee die Leiche seines Vaters durch Knoxville trägt.
Lofaros Edition ist letztlich nicht der „bessere“ Roman, ist aber näher an den Intentionen Agees als die nach seinem Tode publizierte Version. Dass der Verlag C. H. Beck dem Publikum diese Informationen unterschlägt, wirft ein schlechtes Licht auf ihn und lässt ein ernsthaftes Interesse an dem Autor anzweifeln. So ist eine Chance vertan worden, James Agee – von dem Walter Boehlich zurecht sagte, er verdiene es, bekannt zu werden – gerecht zu werden.
Jörg Auberg
James Agee: Ein Todesfall in der Familie (A Death in the Family, 1957). Übersetzt von Gerda von Uslar. Überarbeitet von Ingo Herzke. München: C. H. Beck 2009. 399 Seiten. 19,90 Euro.