Slapstick in der Puppenkiste
„Mann, wie genug ich habe! Was für ein Scheißjob!“, heißt es so treffend in Jean Amilas Die Abreibung, weshalb H.L. Burkhardt auch leider nicht in Lob verfällt.
„Sie haben den Grafen umgelegt!“
„Den Grafen?“, fragte Riton. „Doch nicht etwa René le Comte?“
„Eben den.“
„Wo das denn? In Hintertupfingen?“
„Im vierzehnten Stadtbezirk.“
Der „König der Unterwelt“ René le Comte kehrt nach Paris zurück, um sein Syndikat wieder zu übernehmen. Noch bei seiner ersten Amtshandlung jedoch, mit der er ein paar aufmüpfige Nachwuchsganoven zu räsonieren gedenkt, wird er scheinbar erschossen, worauf Le Comtes Chauffeur und ein Geschäftspartner, Riton Godot(!), den Laden im Handstreich übernehmen wollen. Doch zu früh gefreut! Dem schwer verletzten Grafen gelingt es, sich in ein Krankenhaus zu schleppen, wo man ihn notdürftig zusammenflickt.
Da die Nachricht flugs die Runde macht, entbrennt auch prompt ein offener Machtkampf um die Nachfolge; Renés Rivalen wollen ihm endgültig den Garaus machen, die Getreuen ihn aus dem Krankenhaus retten. Und während es vor den Klinikmauern zu einer Schießerei kommt, spielen sich drinnen weiter die üblichen Dramen zwischen Geburt und Tod ab, bei denen drei Schwesternschülerinnen ihre Feuerprobe in ihrer ersten Nachtschicht zu bestehen haben …
Slapstick in der Puppenkiste
Für ein umfänglicheres Resümee verweise ich auf jene Rezensenten, die in Die Abreibung eine Art Meisterwerk zu sehen geruhen. Und sicher ist es – wie oft gesungen – löblich, Amila durch eine deutsche Edition der Vergessenheit zu entreißen. Nur warum ausgerechnet mit La bonne Tisane (Tisane bedeutet Kräutertee, aber auch Abreibung im Argot), um es gleich zu sagen? Und selbst dann sollte das Ergebnis doch eine gewisse Qualität aufweisen, oder?
Auch wenn man, wie es die französische Kritik betonte, Amilas frühen Roman noir als das begreift, was er ist, nämlich Karikatur, Posse, Persiflage auf Gangsterromane und -filme, ist damit noch kein Malet vom Himmel gefallen.
So strotzt schon der Plot von Unglaubwürdigkeiten. Dass der Oberunterweltler im Alleingang Heißsporne zurechtstutzen will, darf noch der Hybris eines alternden Granden geschuldet sein. Wenn er sich dann aber, fast verblutet, in ein Krankenhaus schleppt, die hemdsärmelige OP (ohne Betäubung) übersteht und sich obendrein – kaum aus dem Koma erwacht – einen wahren Endkampf mit dem abtrünnigen Chauffeur liefert, bei dem er diesen mit einer riesigen Kohlengabel aufspießt und von den Füßen lupft, was den Treulosen indes nicht sonderlich zu behelligen scheint, wären selbst die sieben Leben eines Comic-Helden aufgebraucht. Und ob er hier tatsächlich stirbt, bleibt auch noch die Frage.
Ähnlich verhält es sich mit dem Handlungsbogen. Was da alles in einer einzigen Nacht passiert, ist schier unfassbar, gelingt aber auch nur, weil Schauplätze in Windeseile gewechselt werden (nur für ausgiebige Fahrten mit ebenso ausgiebig beschriebenen Amischlitten ist Zeit), weil Personal wie aus dem Nichts auftaucht – etwa Polizei und Journalisten, welche plötzlich in Horden die Siechenanstalt stürmen. Alles geht holterdiepolter, überdrehte Zeitraffung und fehlende Anschlüsse inklusive, auch die groteske Ballerei, bei der die Gangs sich ganz abstrus in Raum und Zeit bewegen und trotz erheblicher Schusswechsel scheinbar kaum jemand zu Tode kommt. Übrigens gelang auch der immerhin mit Bernard Blier realisierten Verfilmung, zu Deutsch kurioserweise Zyankali, bis auf „zahlreiche Schießereien“ und „blutige Effekte“ (Lex. int. Film) nichts Bemerkenswertes.
Épinal lässt grüßen
Die französische Kritik sprach von Bilderbogen-Moritaten, was sicher trifft. Nur sind diese Images d’Épinal doch zu disparat, holzschnittartig, stereotyp. Wie die Handlung, so die Figuren, die eben keine Seelen haben, in die, wie auf U4 behauptet, hineingeschaut werden könne. Ganoven sind stiernackig, intrigant oder treu wie Gold im Fall der Gangsterbraut; Bordelliers schmierig, Killer handwerklich fit, ansonsten dumm wie Bohnenstroh; Krankenschwestern haltlos idealistisch und demgemäß desillusioniert von der Klinikmaschinerie oder auf der Suche nach dem Traum-Medizinmann …
Überhaupt das Spital: Die Weißkittel sind natürlich höchst sexualisierte Zyniker und nutzen diesbezüglich ihre Macht hemmungslos aus. Eine rothaarige Ärztin muss mehrfach ob ihrer Vorzüge („bleiche, dralle Schenkel“) und ihrer dünnen Bluse, „unter der sie fast nichts anhatte“, herhalten. Selbst der obligate Weißfluss-Witz darf nicht fehlen. All dies hat nichts mit „ungewohnt erotischen Momenten“ zu tun und kaum etwas mit ernster Kritik am Gesundheitswesen (beides Klappentext) samt dessen „notgeilem“ Personal, wie ein Kritiker feinsinnig orakelte.
Wollte Amila die Erwartungen eines Publikums sagen wir mal travestieren, das sich, seit der Schließung der vom Staat geduldeten und leidlich abgeschöpften „Maisons closes“ frustriert, ansonsten in Pigalle mit unterm Mantel verkauftem Pulp jedweder Art versorgte? Was 1955 zur Not noch provokant, ja subversiv daherkam, wie oben erwähnte Zoten, die unverblümte Sexualisierung oder die drastischen Beschreibungen einer Geburt beispielsweise („geweitete, krampfartig zuckende, rosarote Vagina“, „dieser blutige Matsch, dieses Gestöhne, diese Toilettengeräusche“) funktioniert eben schon lange nicht mehr.
„Das Feindbild Nummer eins der Öffentlichkeit“ – der Stil?
Was nun im Original noch Amilas Spottlust und Sprachwitz, der beherzte Gebrauch von Argot und Wortspielen auffängt, geht in dieser tümlichen Übersetzung, vor allem bei den hölzernen Dialogen, leider verloren. Das „Feindbild Nummer eins …“ – gewiss ist damit der „ennemi public“, der Staatsfeind gemeint – scheint hier der Stil, die richtige Wortwahl, die deutsche Syntax zu sein, wie die Zitate belegen. Ja, was denn nun?, fragt man sich oft. Etliches klingt wie maschinell übertragen, holprig, ohne lexikalische Verankerung: „Das Ambiente hier war jetzt definitiv ungesund.“
Fürwahr! Konsequent kommen Ausgeburten des Krankenkassenkatalogs vor wie „Pflegehilfe“ (aide-soignante) statt etwa Schwesternhelferin; „Abteilung“ statt Station; eine solche namens „Geburtshilfe“ für Entbindungsstation. Anderes wiederum wird so konsequent eingedeutscht, dass „Dödel“, „Schweinebär“, „blauer Anton“ (Blaumann), ja sogar „Stadtbezirk“ für das hinlänglich gebräuchliche Arrondissement auftauchen. Aber auch Unverständliches wie „Dienstgeber“, „Wellblechgitter“, „eine Geste kindlichen Beschützertums“; da kommt ein Zuhälter natürlich aus dem „Rinnstein“ und nicht der Gosse. Zeitliche Sprachebenen verrutschen – „Smalltalk“, „Blackout“, „Ich bin zu spät“ gehören eher in neuere Soaps denn in die 1950er. Von der Übernahme typisch französischer Redundanzen gar nicht zu reden („großzügig kübelweise ausgegossen“). Und wo der deutsche Satz wahrlich Spielraum ließe, kennt das Übersetzerkollektiv Helm S. Germer überwiegend Subjekt-Prädikat-Objekt-Konstrukte. Und natürlich kam schließlich auch die vom Rezensenten sehnlichst erwartete „Grüne Minna“ einher, die in Frankreich nur eben blau ist, was dann aber auch schon nichts mehr macht.
PS: Erstaunlicherweise sind einige Kapitelanfänge, meist gegen Ende, nicht nur brauchbar, sondern sprachlich gut. Vielleicht hätten die vielen Köche deren Urheber den Vortritt oder das Lektorat (welches schon bei Mond über Omaha von der ARTE-Jury vermisst wurde) überlassen sollen.
H.L. Burkhardt
Jean Amila: Die Abreibung (La bonne Tisane, 1955) Roman.
Deutsch von Helm S. Germer.
Saarbrücken: Conte Verlag 2009. 184 Seiten. 10 Euro.