Geschrieben am 1. Januar 2005 von für Bücher, Litmag

Jean-Philippe Toussaint: Sich lieben

Eine Nacht in Tokio

Jean-Philippe Toussaints „Sich lieben“ ist ein Juwel melancholischer Schönheit. Wehmütige Poesie, die stille Bilder zum Sprechen bringt. Von Markus Kuhn

Im Taxi hat es angefangen. In Paris. Noch bevor sie sich das erste Mal küssten, begann Marie zu weinen. Tränen der Freude, die schwerelos ihre Wangen hinunterrannen. Dann spazierten sie durch die einsame Nacht. Später haben sie sich geliebt. Das erste Mal.

Sieben Jahre sind vergangen. Wieder sitzen sie im Taxi. Dieses Mal in Tokio. Wieder fängt Marie an zu weinen. Schwere Tränen der Trauer, die ihre Wimperntusche verlaufen lassen. Das Taxi setzt sie vor dem Eingang des riesigen, anonymen Hotelhochhauses ab. Im Zimmer lieben sie sich. Das letzte Mal.

Geschichte einer Trennung

Die Geschichte einer Trennung, eine Nacht in Tokio. Jean-Philippe Toussaints Roman Sich lieben ist ein Juwel melancholischer Schönheit, durchdrungen von einer Musik der Einsamkeit, die durch die langen Gänge des Hotels hallt wie die vom Wind verhauchte Melodie einer Sinfonie in a-Moll. Sätze, die schweben wie die von schweren Teppichen gedämpften elektronischen Sounds der Loungemusiker „Air“.

Inmitten der urbanen Hochhauswüste Tokios, inmitten einer Flut aus neonglitzernden, bunt blinkenden Schrift- und Bildzeichen stehen der namenlose, etwa 40-jährige Ich-Erzähler und seine Freundin, die Pariser Modeschöpferin Marie, am Fenster ihres Hotelzimmers im 16. Stock und wissen, dass ihre Beziehung gescheitert ist. Und haben jeder doch nur den anderen, um die bedrückende Traurigkeit zu teilen. Sie sind erschöpft und ausgebrannt, müde vom Jetlag, am Ende ihrer physischen und psychischen Kräfte. Trotzdem ist an Schlafen nicht zu denken.

Zuerst ziehen sie getrennt, später gemeinsam durch die Nacht. Spärlich bekleidet lassen sie sich durch die winterkalten Straßen treiben, hören in einem billigen Lokal zu, wie japanische Männer ihre Nudelsuppe schlürfen, stoßen mit brühwarmem Automaten-Cappuccino in Plastikbechern an und erleben am frühen Morgen auf einer Eisenbahnbrücke ein Erdbeben, das in Marie eine Lawine aus Panik und erneutem Verlangen lostritt.

Literarischer Minimalismus

Die Romane des 1957 geborenen Belgiers Jean-Philippe Toussaint sind oft als dem Nouveau Roman nahestehend eingeordnet worden. Wenn auch nicht so hintergründig, existentiell und experimentell wie viele Werke Alain Robbe-Grillets oder Nathalie Sarrautes, gibt es tatsächlich Ähnlichkeiten, etwa die Kombination einer aufs Sichtbare fixierten Wahrnehmung mit undurchdringlichen Bewusstseinszuständen, die Konzentration auf Äußerlichkeiten, Lichtverhältnisse und Details und die Annahme einer mit Sprache nicht mehr zu erfassenden Wirklichkeit.

Der literarische Minimalismus Toussaints, die kunstvolle Reduktion sprachlicher Mittel, erzeugt hier aber auch eine tief greifende Sehnsuchtsstimmung, einen intensiven emotionalen Sog. Im Gegensatz zu früheren Werken Toussaints, etwa seinem Erstling Das Badezimmer, ist Sich lieben weniger radikal und thematisch zugänglicher. Eine einfache Geschichte, kunstvoll erzählt. Wehmütige Poesie, die stille Bilder zum Sprechen bringt.

Markus Kuhn

Jean-Philippe Toussaint: Sich lieben. Roman. Aus dem Französischen von Bernd Schwibs. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2003. 153 Seiten, 19,90 Euro. ISBN 3-627-00107-9

14.03.2004