Aus dem Leben der Eintagsfliegen
Nach dem großen Erfolg von Jeffrey Eugenides‘ Middlesex ist jetzt auch sein Erstling wieder neu aufgelegt worden – und bietet mit großem Einfühlungsvermögen und einer poetischen Sprache ein exzellentes Lesevergnügen.
„An dem Morgen, an dem schließlich die letzte Lisbon-Tochter ihren Selbstmordversuch unternahm – Mary diesmal, mit Schlaftabletten wie Therese –, wussten die Sanitäter schon genau, wo die Schublade mit den Messern war, wo der Gasherd und wo im Keller der Balken, an dem man sich aufknüpfen konnte.“
Vor über zehn Jahren erschien im sehr engagierten Byblos Verlag (den es leider als Literaturverlag schon lange nicht mehr gibt) ein wundervoller Roman, der mich mit dem oben zitierten ersten Satz umgehend zu fesseln vermochte. Lange Zeit wartete ich auf ein weiteres Buch des Autors, bis ich den Namen schließlich nahezu vergessen hatte. Doch als mir vor zwei Jahren in einer Dubliner Buchhandlung ein recht umfangreiches Buch in die Hände fiel, das den Namen Jeffrey Eugenides’ trug, war die Gänsehaut wieder da, die Erinnerung an das Schicksal der fünf hübschen Mädchen, deren Flucht aus der kleinbürgerlichen Enge eine endgültige ist. Das besagte dicke Buch mit dem Titel Middlesex wurde dann 2003 in der deutschen Übersetzung zu einem meiner Lieblingsbücher. Dem großen Erfolg von Middlesex bei Kritikern und Lesern gleichermaßen ist es zu verdanken, dass der Rowohlt Verlag nun auch Eugenides’ Erstling neu herausgibt.
Verkörperung feuchter Träume
Die Selbstmordschwestern, das sind die Mädchen der Familie Lisbon: Cecilia (dreizehn), Lux (vierzehn), Bonnie (fünfzehn), Mary (sechzehn) und Therese (siebzehn). Die Mädchen sind die Verkörperung der feuchten Träume der Nachbarsjungen – rätselhaft, geheimnisvoll, verlockend und unerreichbar. Der unscheinbare Vater ist Mathelehrer an der High School, regiert wird die Familie von der strengen und humorlosen Mutter, an der die Nachbarsjungen „vergeblich nach Anzeichen verblichener Schönheit“ suchen. Die sonntäglichen Kirchgänge sorgen für Aufruhr in pubertären Gemütern: „… die Eltern farblos wie Negative und dann die fünf funkelnden Töchter, deren schwellendes Fleisch die selbstgeschneiderten Kleider voller Spitzen und Rüschen zu sprengen drohte.“
Ohne wirklich fassbare Motive, aber vor dem Hintergrund einer an religiösen Wahn gemahnenden Isolation der Familie, begeht eines Sommers nacheinander jedes der Mädchen Selbstmord. Die Nachbarn, vor allem aber die gleichaltrigen Jungen, nehmen versteckte Hilferufe der Mädchen erst wahr, als es längst zu spät ist.
Chronik angekündigter Tode
Der Erzähler verschanzt sich hinter der ersten Person Plural, taucht unter in der anonymen Menge der beteiligten Jugendlichen. Wenn er schreibt „In den ersten Tagen nach der Beerdigung wuchs unser Interesse an den Lisbon-Mädchen nur noch“, dann impliziert diese Formulierung das Getuschel der Jungen, den erregten Austausch von Informationen und Beobachtungen, die den Grundton des Romans ausmachen – und belegt gleichzeitig, wie eine (sensations?-)lüsterne Menge kaum etwas unternimmt, um der Chronik fünf angekündigter Tode entgegenzutreten. Eugenides interessiert sich nur am Rande für den religiösen Fanatismus der Mutter, selbst die Schicksale der Mädchen, obwohl zentrales Thema, drängen sich nicht in den Vordergrund. Vielmehr nutzt Eugenides diese Erzählperspektive, um die Mitbürger, die Nachbarn, die Reporter und letztendlich auch die Jungen, die der Situation nicht gewachsen sind, zu demaskieren.
„Wir haben alles gesehen. Wenn man es genau nimmt, nicht nur gesehen, sondern regelrecht gelebt. Es mag sich merkwürdig anhören, aber wir haben den Tod der Lisbon-Töchter gelebt. Nicht einfach nur „miterlebt“, das würde der Geschichte nicht gerecht, falsch wäre es aber auch, zu behaupten, wir seien „mitgestorben“ – nein, wir wählen mit voller Absicht die Formulierung den Tod gelebt.“
Demaskierung
Die Erzählweise besticht durch sensible Annäherung, vorsichtige Spekulation und dem spürbaren Willen, irgendwie alles Geschehene wieder rückgängig zu machen. Dennoch herrscht der Eindruck vor, dass der Erzähler selbst im Alter noch nicht verstanden hat, was tatsächlich in jenem verhängnisvollen Sommer vor sich ging, in dem nach und nach fünf Mädchen in der Blüte ihres Lebens sich dasselbe nahmen. Mit dem Verweis auf Anlagen (Beweisstücke, Zeitungsartikel, Zeugenaussagen), die jedoch nicht wirklich dem Roman beigefügt sind, erzeugt Eugenides eine vermeintliche Authentizität. Sein Erzähler hat akribisch Reliquien der Objekte seiner Begierde zusammengetragen: Polaroidaufnahmen des Hauses, Marys ausgetrocknete Kosmetika, Cecilias vergilbte Basketballstiefel, Bonnies von Mäusen angenagte Votivkerzen, Thereses Objektträger und Lux’ Büstenhalter, der „so steif und prothesenartig wurde wie etwas, was eine Großmutter anzieht“.
An diesem Roman stimmt einfach alles, angefangen bei der überzeugenden Story über wunderbare Motive, die den permanenten schleichenden Verfall illustrieren (die Schwärme von Eintagsfliegen, deren tote Leiber als klebrige schwarze Schicht Straßen, Wege, Häuser und Autos überziehen / die unaufhaltsame Erkrankung der Ulmen / der lang anhaltende Totengräberstreik), bis hin zu einer wirklich glaubhaften Sprache: poetisch, aber einfach, nicht ohne Sinn für Humor, mit viel Einfühlungsvermögen in die Psyche Heranwachsender.
Frank Schorneck
Jeffrey Eugenides: Die Selbstmordschwestern. Roman. Übertr. v. Mechthild Sandberg-Ciletti, durchges. v. Eike Schönfeld. Überarb. Neuausg. Rowohlt 2004, 256 S., 17,90 ¤. Gebunden. ISBN: 3-498-01671-7.
(Anm: Die Zitate folgen Mechthild Sandberg-Cilettis ursprünglicher Übersetzung der Ausgabe von 1993.)