Spitzenmittelmaß
Jo Nesbøs Romane um seinen Helden Harry Hole sind Phänomene. Evidenterweise sind sie eher mittelmäßig und wenig originell, dennoch landete jetzt der Leopard auf allen Listen und Rankings ganz oben. Joachim Feldmann hat sich ein paar Gedanken dazu gemacht.
Dass hinter einer Mordserie nicht notwendigerweise ein Serienmörder stecken muss, weiß in Norwegen „jeder halbwegs erfahrene Mordermittler“. Der Kriminalist Eriksen ist da keine Ausnahme. „Damals dachten auch alle, es wäre ein Serienmörder in Oslo unterwegs“, belehrt er einen vorwitzigen Polizeieleven. „Als sie den Täter fanden, stellte sich heraus, dass er nur ein Motiv für den dritten Mord hatte. Da er aber wusste, dass er in Verdacht geraten würde, wenn nur diese eine Frau getötet wurde, tötete er auch die anderen. Es sah aus, als wäre ein geisteskranker Serienmörder unterwegs.“ Dieser Fall sei zur Legende geworden, erklärt uns kurz darauf der Erzähler, ebenso wie der, der ihn gelöst hatte. Und bei diesem genialen Ermittler handelt es sich selbstredend um niemand anderen als Harry Hole, den Experten für bizarre Morde, der in Jo Nesbøs umfänglichen Kriminalroman Leopard seinen achten Auftritt hat.
Morde aus Papier
Nun erinnert sich unsereiner auch an ähnlich gelagerte Fälle. Allerdings nicht, weil sie uns auf einer norwegischen Polizeischule als „Musterbeispiel“ nahegebracht worden wären. Wir denken vielmehr an Cop Hater, Ed McBains 1956 im Original und 1964 in deutscher Übersetzung (Polizisten leben gefährlich) erschienenen ersten Roman über das 87. Polizeirevier. Steve Carella und seine Kollegen glauben sich einem psychopathischen Killer, der von einem krankhaften Hass auf Polizisten getrieben ist, auf der Spur, um dann feststellen zu müssen, dass es sich um ein Tarnmanöver für einen geplanten Mord handelte. Eine Plotidee, die so verführerisch ist, dass sie 33 Jahre später von der Autorin Paula Gosling in ihrem Roman Backlash (dt. Der Polizistenkiller, 1990) noch einmal verwendet wurde. Sie wird nicht die einzige geblieben sein.
Zu bezweifeln wäre allerdings, dass solch elaborierte Mordpläne auch in der kriminellen Realität vorkommen. Vielmehr gehören sie, ebenso wie all die ausgeklügelten Pläne, unliebsame Mitmenschen ums Leben zu bringen, von denen die Kriminalliteratur seit ihren Anfängen zu erzählen weiß, als genrespezifische Strukturelemente in die Welt der Fiktion. Und diese sieht im Fall von Jo Nesbø folgendermaßen aus: Da gibt es zunächst einmal den brillanten Ermittler, der aber, wie man es seit den frühen Psychopathenkrimis James Ellroys kennt, von seiner ständigen Konfrontation mit dem Bösen gezeichnet sein muss. Harry Hole ist ein (in diesem Roman weitgehend trockener) Alkoholiker und gelegentlicher Opiumraucher, dem sein eigenes Leben wenig wert zu sein scheint.
Leopard beginnt damit, dass er aus seinem Hongkonger Exil zurückgeholt werden muss, um dem Osloer Morddezernat seine Expertise bei der Aufklärung einer rätselhaften Mordserie zur Verfügung zu stellen. Dass sich zu der attraktiven Kollegin, die mit dieser Mission betraut worden ist, ein engeres Verhältnis entwickelt, ist ebenso unausweichlich wie der Umstand, dass die Dame noch andere Verpflichtungen hat. Denn innerhalb des Polizeiapparates gibt es eine ungute Konkurrenzsituation, die sich wenig förderlich auf die Suche nach dem Killer auswirkt. Was diese angeht, so kommt es schon bald nach der Ankunft Harry Holes in der Heimat zu den ersten handfesten Resultaten.
Der „brillante Kommissar“ (Klappentext) ist tatsächlich ein guter, weniger intuitiv als logisch vorgehender Ermittler, und wenn er nicht mehr weiter weiß, muss eine ehemalige Kollegin, die aufgrund einer offenbar eher milden Geisteskrankheit in einem Sanatorium einsitzt, das Internet konsultieren, wo offenbar alle Informationen zu finden sind, die das Polizistenherz begehrt. (Eine Studie, die die handlungstragende Rolle des weltweiten Netzes in zeitgenössischen Kriminalromanen untersucht, käme sicherlich zu bemerkenswerten Ergebnissen.)
Sadist at work
Kommen wir zum Mörder. Der ist, wie man es kennt, ein ausgemachter Sadist und befindet sich auf einem Rachefeldzug. Früh erlittene Verletzungen wollen gesühnt werden. Der Plural ist hier nicht ohne Grund gewählt worden, denn der Plot, den sich Nesbø ausgedacht hat, erweist sich auf bemerkenswerte Weise als doppelbödig. Das sorgt für einige Überraschungseffekte, zumal der Autor einen auktorialen Erzähler einsetzt, der sein Wissen auf ausgesprochen ökonomische Art preisgibt. Anders als mancher seiner skandinavischen Schriftstellerkollegen verzichtet Nesbø weitgehend auf narratives Füllmaterial und kommt dennoch auf gut 700 Seiten. Viel Buch fürs Geld also.
Wer sich ein Wochenende lang gut unterhalten möchte, ein Faible für exotische Mordinstrumente hat und den Typus des exzentrisch-genialen Ermittlers in einer milden zeitgenössischen Variante erleben möchte, wird hier bestens bedient. Große Kriminalliteratur ist das nicht unbedingt. Vielmehr scheint es so, als fänden die nicht selten zu Unrecht als „Häkelkrimis“ verspotteten Detektivromane des sogenannten „Goldenen Zeitalters“ ausgerechnet in den beliebten düsteren Schmökern aus dem hohen Norden ihre legitimen Nachfolger.
Joachim Feldmann
Jo Nesbø: Leopard (Panserhjerte, 2009). Roman.
Aus dem Norwegischen von Günther Frauenlob und Maike Dörries.
Berlin: Ullstein 2010. 699 Seiten. 21,95 Euro.