Geschrieben am 4. April 2009 von für Bücher, Crimemag

Joachim Gaertner: Ich bin voller Hass…

„Nachlass zweier Massenmörder“

Die Mutter aller Schulmassaker: Zusammenstellung von Dokumenten aus den Gerichtsakten zur Tragödie an der Columbine Highschool im April 1999 Von Tina Manske

Den Veröffentlichungstermin dieses Buches hätte der Eichborn Verlag Berlin besser nicht „treffen“ können. Das Rezensionsexemplar erreichte mich just an dem Tag, als in Winnenden ein durchgeknallter Jüngling 15 Menschen erschoss, beim ersten Durchblättern lief die Waiblinger Pressekonferenz im Fernsehen. Und es scheint nicht unwahrscheinlich, dass Tim K. die Protagonisten dieses „dokumentarischen Romans“ zu Vorbildern erkoren hatte. Ich bin voller Hass – und ich liebe es ist die Zusammenstellung von Dokumenten, die Joachim Gaertner, damals für eine geplante Fernsehreportage recherchierend, vom Jefferson County Sherrif’s Office im Jahr 2006 zugeschickt bekam sowie Auszügen aus Interviews, die er selbst bei den Recherchen führte. Die Dokumente enthalten Tagebuchaufzeichnungen, Blogeinträge, Schulaufsätze, Zeugenaussagen, Abschriften von Videoclips, Verhörprotokollen etc. aus den Gerichtsakten zum Massaker an der Columbine Highschool im April 1999. Gaertner unternahm es, die Schnipsel zu gewichten, zu ordnen, einer eigenen Dramaturgie zuzuführen. Die Täter Dylan Klebold und Eric Harris tauchen in diesen Dokumenten vor dem inneren Auge auf wie Schemen in einem Killervideospiel, man kann sich beim Lesen eines gewissen Grusels nicht erwehren.

Deutlich wird durch dieses Buch, welch gefährlicher Cocktail aus diesen jungen Männern Täter werden ließ, eine Mischung, die sich als Schablone auch auf andere solche Schulmörder anwenden lässt: Außenseitertum gepaart mit Intelligenz, Größenwahnsinn gepaart mit Minderwertigkeitskomplexen, Waffenvernarrtheit (und Zugang zu Waffen) gepaart mit einem aus welchem Grund auch immer erlebten tiefen Gekränktsein. Nach und nach steigerten sich die beiden immer mehr in ihre Fantasien hinein, bis sie sie zur schrecklichen Wirklichkeit machten. Doch leichte Antworten auf die Wie-konnte-es-dazu-kommen-Frage, die gibt es nur im Boulevard. Beim Lesen dieses Buches ist man vielmehr erschüttert von der Gemeinsamkeiten, die man mit dem eigenen Leben entdecken mag, und von den unerklärlichen Leerstellen zwischen den recht durchschnittlichen Leben zweier Teenager und einer unfassbaren Tat. Natürlich könnte man einwenden, diese Veröffentlichung mache die Identifikation mit den Tätern leicht und könnte weitere Nachahmer auf den Plan rufen. Diese Gefahr besteht – vielleicht aber auch die Chance, das nächste Mal potenzielle Täter mit ähnlichen psychischen Profilen zu entdecken, bevor sie ihre Fantasien in die Tat umsetzen.

„… hier habe ich Probleme …“

Sowohl Klebold als auch Harris belegten einen Kurs in Creative Writing und fallen durch ihr Erzähltalent auf, was von den Lehrern auch anerkannt wird. Nur was die Inhalte angeht sind die Pädagogen ratlos: Mordfantasien sind an der Tagesordnung, in einem Aufsatz knapp zwei Monate vor dem Massaker verherrlicht Klebold einen von ihm erfundenen grausamen Rächer gar als „Erscheinung Gottes“ – da steigt auch die Lehrerin aus und konstatiert in der Korrektur: „… hier habe ich Probleme. Ich möchte mit dir darüber sprechen, bevor ich dir eine Note gebe.“ Trotzdem kann man den beiden Originalität sicher nicht absprechen, und manche Passagen ihrer Aufzeichnungen sind äußerst unterhaltsam: „Gott es macht mich krank, wenn Leute ‚Docht‘ sagen, wenn sie über Feuerwerk reden!! Sag vudammt noch mal nich DOCHT, oder Ich reiß dir dein vafickten KUPF ab und DU-rinier dir den Rücken runner!! ES HEISST ZÜNDSCHNUR!“ (Bei der Übersetzung durfte Gaertner öfter mal den Stil von Arno Schmidt vor Augen gehabt haben.) Für den unwahrscheinlichen Fall, nach dem Massaker unbehelligt fliehen zu können, malten sich Harris und Klebold aus, ein Flugzeug zu entführen und über New York abstürzen zu lassen – selbst 9/11 haben sie also schon imaginiert.

Warum nun aber gehört dieses Buch zurecht ins Genre „dokumentarischer Roman“? Weil Gaertner in seiner Kompilation sehr klug die Tricks von Romanautoren anwendet – Motive werden angedeutet, rote Fäden gelegt und später wieder aufgenommen, Tatsachen als solche präsentiert und erst später erklärt, verschiedene Erzählpositionen werden montiert. Das macht Ich bin voller Hass zu einer sehr fesselnden Lektüre.

Es handelt sich bei diesem Buch, wie Gaertner im Nachwort konstatiert, um den „Nachlass zweier Massenmörder“. Das Wort ‚Amokläufer‘ fällt bei ihm nicht, und man sollte es ganz aus der Diskussion um solche Schulmassaker verbannen. Diese Kinder laufen nicht Amok, sondern haben einen Plan, und hier liegt einer in Buchform vor uns.

Tina Manske

Joachim Gaertner (Hg.): Ich bin voller Hass – und das liebe ich. Dokumentarischer Roman. Aus den Original-Dokumenten zum Massaker an der Columbine Highschool. Eichborn Berlin 2009. 192 Seiten. broschiert. 16,95 Euro. ISBN: 9783821858487.