Die guten Deutschen, die Rechtsradikalen und wir
Die nächste deutschnationalistische Provokation kommt ganz bestimmt und bis dahin kann man ja einmal etwas ganz Ungewöhnliches tun – ein Buch zum Thema lesen.
Man ist es gewohnt und es wird auch so bleiben. Wenn irgendwo in Deutschland Rechtsradikale aus ihren Löchern hervorkriechen, wenn sie bei politischen Wahlen mehr als das Landesübliche an Stimmen erhalten, dann werden – wie es schon seit Jahrzehnten akzeptierter Brauch ist – die immer gleichen Erklärungen gegeben und die bewährten Formationen zu den Ritualbekenntnissen aufgestellt. Aktuell ist das wieder zu beobachten bei den Reaktionen auf die bislang letzten Landtagswahlen und anläßlich des Holocaust-Gedenkens im sächsischen Landtag. In zwei ostdeutschen Bundesländern gewannen rechtsextreme Parteien eine erschreckend hohe Zahl an Wählerstimmen. Weniger dramatisch, aber immer noch bedenklich hoch war auch die Zustimmung, die die extreme politische Rechte im Saarland erhielt. In den Tagen nach den Wahlen schwankte man aber, ob die Höhe der Wahlprozente für die deutschnationalistischen Parteien oder einige der politischen Reaktionen auf diese Entwicklung mehr Anlaß zur Sorge bereiteten. Da las man dann immer wieder, dass die gewachsenen Sympathien in der Bevölkerung für Nazi-Sprüche den Industriestandort Deutschland gefährden. Als ginge es lediglich um ökonomische Investitionssorgen, wenn in einem Land mit einer so dramatischen jüngeren Vergangenheit wie Deutschland ein mühsam gewonnener demokratischer Grundkonsens einbricht. Oder, so hieß es auch, die durch die Sächsische Schweiz herummarodierenden Skinheads seien mit einer erfolgreichen Arbeitsmarktpolitik wieder zu beruhigen. Aber die demokratisch gewählten deutschnationalistischen Abgeordneten treten in den Parlamenten nicht in Springerstiefeln, sondern im Dreiteiler auf. Und waren es denn nur radikalisierte Arbeitslose und verunsicherte Kleinbürger, die den Nationalsozialismus schließlich an die Macht gebracht haben? Altväterlich beschwichtigend dann der Verweis auf die disziplinierende Wirkung parlamentarischer Spielregeln auf die extremistische Abgeordnete der politischen Rechten. Als seien politische Stimmungen und Ressentiments durch den Kodex des Parlamentarismus zu verändern. Die Provokationen der demokratisch gewählten Nazi-Partei NPD im Sächsíschen Landtag haben keine neuen, nur noch mehr zugespitzte und noch hilflosere Reaktionen bei den Parteien des ‚freiheitlich-demokratischen Verfassungsbogens‘ herausgekitzelt. Stoiber gibt mal schnell so en passant dem rechten Rand der CSU Zucker und erklärt die politische Formel von „RotGrün“ als verantwortlich für die spektakulären Landgewinne der Neo-Nazis. Schnelle Erklärungen, oberflächliche Expertisen, durchsichtige Parteienpolemik und betuliche Abwiegelungen machen die Runde durch die Talkshows und viele Leitartikel. Ein kurzes, grelles Scheinwerferlicht auf die neuen rechtsextremen Parlamentarier – und dann wieder ‚Business as usual‘.
Es gibt wenige Ausnahmen in dem oft einstimmigen Kommentierungschor politischer Wahlerfolge rechtsextremer Parteien in Deutschland. Annette Ramelsberger von der ‚Süddeutschen Zeitung‘ etwa, die bereits seit vielen Jahren kontinuierlich den Reifungsprozess einer ‚neuen extremen Rechte“ in Deutschland beobachtet. „In manchen Gegenden Sachsens“, so schreibt sie zutreffend in einem Leitartikel der SZ, „ist die NPD in der Mitte der Gesellschaft angekommen.“ Erst wenn man seinen Blick, sei es als kommentierender Tagesjournalist, sei es als forschender Wissenschaftler, auf das gesellschaftliche Zentrum richtet, kann man den historischen Nationalsozialismus und seine heutigen Maskierungen richtig interpretieren und einordnen. So nebenbei und mit formalen Entscheidungen („Parteiverbot“) wird man das in einigen Gegenden und in bestimmten Generationen bereits tiefer eingedrungene rechtsradikale Sympathisantengeflecht nicht beseitigen können. Die nächste deutschnationalistische Provokation kommt ganz bestimmt und bis dahin kann man ja einmal etwas ganz Ungewöhnliches tun – ein Buch zum Thema lesen.
Unabhängig von tagesaktuellen Konjunkturen forscht auch der Hannoveraner Politikwissenschaftler Joachim Perels seit Jahrzehnten über die gesellschaftlichen Ursachen des nationalsozialistischen Unrechtsstaates und vor allem über dessen Nachbeben in der demokratischen deutschen Nachkriegsgesellschaft. Eine Auswahl seiner Arbeiten ist jetzt unter dem Titel „Entsorgung der NS-Herrschaft“ in einem Sammelband erschienen. Mit der den Band einleitenden Widmung („Dem Andenken an Fritz Bauer, Generalstaatsanwalt aus Freiheitssinn, Mitbegründer der ‚Kritischen Justiz“) gibt Perels sogleich den Tenor seiner Argumentation an. Er fügt sich damit in eine politische Traditionslinie ein, die zumindest in den Nachkriegsjahrzehnten im deutschen Bürgertum immer minoritär gewesen ist und die heute immer mehr in Vergessenheit gerät. Dass er selber einer protestantischen Familie entstammt, die große Opfer im Kampf gegen das Nazi-System gebracht hat, erwähnt Perels indirekt nur an einer Stelle seiner Erinnerung an die Abschiedsbriefe zu Tode verurteilter Widerständler. Dort zitiert er auch Zeilen aus dem Brief, den sein Vater Friedrich Justus Perels vor der Hinrichtung an seine Frau gerichtet hat. Joachim Perels hat dieses wichtige biographische Datum nie an den Anfang oder in den Mittelpunkt seiner Forschungsarbeiten über den Nationalsozialismus gestellt. Dass durch diese biographische Prägung aber seine Argumente eine zusätzliche moralische Kompetenz erhalten, ist unzweifelhaft.
Orientiert an den Faschismusanalysen von Ernst Fraenkel („Der Doppelstaat“) und Franz L.Neumann („Behemoth“) versucht Perels die „Strukturen der NS-Despotie“ offenzulegen. Wie funktionierte der Übergang von der rechtsstaatlichen ‚Weimarer Demokratie‘ in den nationalsozialistischen „Massnahmestaat“ (Fraenkel). Wie wurde der Justizapparat in das NS-Regime eingefügt und warum konnten in der rechtsstaatlichen BRD anti-demokratische Restbestände der NS-Justiz so lange weiterbestehen? Seiner in immer wieder neuen Varianten und mit immer weiteren Belegen vorgetragene Grundthese von dem Nachwirken des Nazi-Unrechts innerhalb des post-faschistischen Deutschlands, kann heute ernsthaft wohl niemand mehr widersprechen. Im Bildungssystem, in den medizinischen Institutionen, innerhalb der Medien und ganz besonders auch im westdeutschen Justizapparat, gehörten Täter und aktive Mitläufer der NSDAP lange Zeit zum Stammpersonal auch in führenden Gremien. „Der beamtete Stab des NS-Regimes, der einst in weitem Maße für die Durchbrechung rechtsstaatlicher und völkerrechtlicher Positionen mitverantwortlich war, wurde nach 1951 fast ohne Einschränkung zum Rückrat der Bundesrepublik.“ Warum bis heute – und in letzter Zeit sogar verstärkt – die konservativen Eliten des deutschen Bürgertums so empfindlich auf die sogenannte „68er- Generation“ reagieren, wird einem bei der Lektüre der Arbeiten von Joachim Perels bewußt: in jener Zeit der studentischen Revolte Ende der sechziger/Anfang der siebziger Jahre, der auch Perels wichtige Impulse seiner forschenden Neugierde verdankt, wurde das Versagen fast des gesamten deutschen Bürgertums in den Jahren vor und während des Nationalsozialismus in aller Deutlichkeit offengelegt. Viele mit dem „68er“-Etikett versehene „kulturrevolutionäre“ Ideen konnten von der kapitalistischen Konsumgesellschaft leicht funktionalisiert werden.
Dass diese dekorativen Facetten der 68er-Studentenbewegung heute kritisiert oder karikiert werden – was soll’s. Aber die Arbeiten von Perels erinnern an ein wichtiges intellektuelles Erbe, das wiederzuentdecken ein großes Verdienst vieler Debatten in jenen „Jahren der Studentenrevolte“ gewesen ist: Fraenkel, Neumann, Kirchheimer, natürlich auch Adorno/Horkheimer insistierten mit ihren Arbeiten auf ein Verständnis der Ursachen des Nationalsozialismus und mit der Offenlegung des historischen Versagens gerade der bürgerlichen Eliten blieb in der weiteren Entwicklung der deutschen Nachkriegsgesellschaft immer eine schmerzhafte Wunde offen. Auch der nach dem Ende der deutschen Teilung forcierte Versuch, das Unrechtssystem der Nazis mit dem der ostdeutschen Kommunisten auf eine Stufe zu stellen und damit auch nolens volens zu relativieren, wird von Perels mit luziden Argumenten zurückgewiesen. Sich den Opfern der beiden undemokratischen Systeme verpflichtet zu wissen, heißt aber auch, auf differenzierte Untersuchungen zu bestehen. Wer beide Systeme als identisch, gleichsam auf ‚Augenhöhe‘ interpretiert, „will die Argumentationsergebnis des Historikerstreits, die Verteidigung des unbestechlichen Blicks auf die NS-Despotie und die Wahrnehmung der geschichtlichen Genesis ihrer Verbrechen, rückgängig machen.“
Die Lektüre des Buches von Joachim Perels reicht auch nicht aus, um das h e u t e aktuelle Phänomen jugendlicher Sympathien für rechtsradikale Parteien in seiner ganzen Vielfältigkeit zu verstehen. Aber es bewahrt den Leser vielleicht vor allzu populären Urteilen und fragwürdigen ritualisierten „Fahnenappellen“. Erst wenn man auch sein eigenes Denken und vor allem Handeln in eine klare freiheitliche-republikanische Traditionslinie einordnen kann, wird es leichter sein, sich selbstbewußt den dummen rechtsradikalen Sprücheklopfern entgegenzustellen.
Letztlich muß aber jeder selber entscheiden, welche Konsequenzen man aus dem von Joachim Perels an einer Stelle zitierten Vermächtnis des großen republikanischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer zieht: „Wir können aus der Erde keinen Himmel machen, aber jeder von uns kann etwas tun, dass sie nicht zur Hölle wird.“
Von Carl-Wilhelm Macke
Joachim Perels: Entsorgung der NS-Herrschaft. Konfliktlinien im Umgang mit dem Hitler-Regime. Offizin-Verlag, Hannover, 2004, 384 Seiten. 22,90 Euro. ISBN 3-930345-42-0