Der alte Mann und das Meer
Banville-Leser finden in dem Roman das, was sie an seinen Büchern schätzen: einen von der ersten bis zur letzten Zeile durchkomponierten Plot, bei dem alles mit allem zusammenhängt und nichts dem Zufall überlassen ist; eine Sprache, die melodiös, poetisch und doch kühl kalkuliert ist; eine Bildhaftigkeit, die in manchmal knappsten Sätzen ganze Assoziationsketten eröffnet. Von Petra Vesper
„Sie sind gegangen, die Götter, am Tag dieser eigentümlichen Flut.“ Ein alter Mann kehrt zurück ans Meer seiner Kindheit, an diese riesige „Schale voll blasenartig sich blähenden, bleiblauen, böse glitzernden Wassers“. Und so, wie die Wellen an den Strand schlagen, sich dort brechen und zurück ins Meer fließen, so kehren auch Erinnerungsfragmente des Mannes in Wogen zurück, nur um sich kurz darauf mit anderen Erinnerungswellen zu vermischen und dann wieder im großen Ozean des Gedächtnisses zu verschwinden.
John Banvilles jüngster Roman Die See ist ein einziger innerer Monolog seines Ich-Erzählers Max Morden, eines 61-jährigen Kunsthistorikers mit akuter Schreibblockade. Kurz nach dem Tod seiner Frau Anna kehrt er nach Ballyless zurück, jenem Badeort an der irischen See, in dem er in der Kindheit jeden Sommer mit seinen Eltern verbracht hat, und mietet sich in der Pension „Zu den Zedern“ ein. Es geht ihm nicht nur darum, abzutauchen, mit der Trauer fertig zu werden und den Tod zu verarbeiten, sondern es geht ihm auch darum, eine Bilanz seines Lebens zu ziehen: „In mir pocht die Vergangenheit gleich einem zweiten Herzen.“ Denn die Vergangenheit ist immer allgegenwärtig; ohne sie ist die Gegenwart nicht zu denken. Eros und Tod gehören im Leben von Max Morden untrennbar zusammen – und beide haben ihre Wurzeln hier in diesem irischen Küstenkaff.
Ein Sommer, die Liebe, der Tod
Vier Zeitebenen mindestens sind es, die Banville kunstvoll ineinander fließen lässt: Da ist die Gegenwart, die Rückkehr von Max an den Küstenort, wo er zusammen mit der ältlichen Wirtin und einem zweiten Gast, einem verschrobenen Ex-Offizier, in der altmodischen Pension lebt. Dann ist da die qualvolle Zeit des Sterbens seiner Frau Anna – jenes knappe „Jahr der Plagen“ zwischen der Diagnose „Krebs“, die ein Arzt mit dem sprechenden Namen „Dr. Todd“ stellt, und dem Morgen von Annas Tod im Krankenhaus, bei dem Max nicht dabei ist, sondern vor der Klinik steht. Eine weitere Ebene schließlich ist die glückliche Zeit ihres ersten Kennenlernens und der anschließenden Hochzeit. Am weitesten zurück reicht die Erinnerung in die Kindheit: An jenen Sommer vor 50 Jahren, in dem der damals 11-jährige Max, der mit seinen Eltern in der billigen Ferienanlage „The Field“ Urlaub macht, der Familie Grace begegnet, die sich den Sommer über in der Villa „Zu den Zedern“ einquartiert hat. Diese vierköpfige Familie und ihr Kindermädchen Rose sind die „Götter“ für den kleinen Max, Wesen aus einer anderen Welt. Es ist der Sommer, in dem Max die Liebe kennen lernt – und den Tod. Zunächst ist es die Mutter, Connie Grace, die mit ihrer lässig-lasziven Art Max’ erotische Phantasien erwachen lässt. Doch mit Mrs. Graces Tochter, der eigenwilligen Chloe, wird aus der Phantasie schließlich Realität. Mit ihr und ihrem Zwillingsbruder Myles freundet sich Max in diesem Sommer an: mit Myles, dieser faunischen Gestalt mit den „Schwimmhäuten zwischen den Zehen“, der nicht spricht, sich aber mit seiner Zwillingsschwester auf eine ganz eigene Art und Weise verständigt; und mit der unbändigen Chloe, dem Mädchen mit den grünlich schimmernden Zähnen und dem Atem, der immer ein wenig nach Äpfeln riecht. Mit Chloe erlebt Max seinen ersten heimlichen Kuss und das erste Streicheln nackter Haut. Und mit ihr erlebt er zum ersten Mal, dass Glück niemals von langer Dauer ist, denn die Götter verschwinden eines Tages und lassen ihn zurück.
Erst am Ende des Romans, der auf den letzten 20 Seiten mehr Dynamik entwickelt und mehr „Handlung“ enthält als auf den ersten knapp 200 Seiten davor, erfährt der Leser, was damals passiert ist: ein mysteriöser Selbstmord. Chloe und Myles sind eines Tages gemeinsam ins Meer gegangen, immer weiter hinaus geschwommen, bis sie plötzlich nicht mehr zu sehen waren. Jede Hilfe kam zu spät. „Aber habe ich denn geglaubt, dass sie tot waren? In meiner Vorstellung schwebten sie aufrecht, Arm in Arm, in einem endlos großen, strahlend hellen Raum und blickten starr und ernst mit ihren weit aufgerissenen Augen geradeaus in die unermesslichen Tiefen des Lichts.“
Abschied und Verlust, Trauer und Tod, Schuld und Sühne – diese Grundmotive des Romans werden schon mit dem ersten bedeutungsschwangeren Satz heraufbeschworen. Das Meer hat die Götter geboren und sie wieder zurückgenommen, und Max ist zurückgekehrt, um sie wiederzufinden. Dieses Erinnerungsbuch ist auch ein Versuch, sie wieder lebendig werden zu lassen, das Strandgut der Erinnerungen zusammenzutragen.
Melodiös, poetisch und doch kühl kalkuliert
Der irische Schriftsteller John Banville galt lange Zeit als ein Autor für Kritiker, weniger als ein Liebling des großen Publikums. In Deutschland litten seine Bücher viele Jahre unter wechselnden Übersetzern und mittelmäßigen Übersetzungen. Erst in den letzten Jahren bekam das Engagement des Verlags Kiepenheuer & Witsch Kontinuität durch die Übertragungen von Christa Schuenke. Die elaborierte – teilweise schon manierierte – Sprache Banvilles, der, einem Lyriker gleich, jedes Wort mit Bedacht setzt, stellt jeden Übersetzer vor eine höchst schwierige Aufgabe. Christa Schuenke meistert sie durchweg recht ordentlich. An einigen Stellen knirscht es jedoch gewaltig – wohl dem, der dann das englische Original zur Hand hat. Für The Sea, seinen 14. Roman, erhielt John Banville im letzten Jahr den Man Booker Prize, die wichtigste Literaturauszeichnung Großbritanniens. Damit wurde ihm auch international jene Aufmerksamkeit zuteil, die man in den letzten Jahren manchmal ein wenig vermisst hat. Warum er aber ausgerechnet für diesen Roman den renommierten Preis bekommen hat, ist – in Anbetracht seines Gesamtwerks – eher rätselhaft. Vielleicht, weil die Auszeichnung eigentlich längst überfällig war und man ihn nun einfach nicht mehr übergehen konnte. Die See ist ein großartiger Roman, keine Frage, aber sicherlich nicht Banvilles bestes Buch. Nichtsdestotrotz ist er aber ein „typischer Banville“, was uneingeschränkt als Kompliment gemeint ist. Banville-Leser finden hier das, was ihnen schon in seinen 13 früheren Büchern kostbar geworden ist: einen von der ersten bis zur letzten Zeile durchkomponierten Plot, bei dem alles mit allem zusammenhängt und nichts dem Zufall überlassen ist; eine wundervolle Sprache, melodiös und poetisch und doch kühl kalkuliert; eine Bildhaftigkeit, die in manchmal knappsten Sätzen ganze Assoziationsketten eröffnet.
Petra Vesper
John Banville: Die See. Deutsch von Christa Schuenke. Kiepenheuer & Witsch 2006. 219 Seiten. 17,90 Euro.