Geschrieben am 2. Februar 2004 von für Bücher, Litmag

John Griesemer: Rausch

Großes Emotions- und Katastrophenkino

John Griesemers Rausch ist ein unterhaltsamer Historienroman über den Beginn des Kommunikationszeitalters, aber keine literarische Sensation.

1857. In einer Zeit, in der es weder Satellitenschüsseln noch Handys gab, in der man nicht einfach zum Hörer greifen oder eine E-Mail schreiben konnte, um einen Freund in Übersee zu erreichen, versuchte eine Hand voll mutiger, innovativer und geschäftstüchtiger Männer ein Kabel quer durch den Atlantik zu legen, von Irland nach Neufundland, von der alten in die neue Welt: Der Beginn des Zeitalters der globalen Kommunikation, die Geburtswehen der Moderne. Das Unterfangen, Sturm und See zu trotzen, um einen gummigeschützten Stahldraht auf den Grund des Ozeans abzurollen, sollte zwar bis 1866 noch mehrere Male scheitern. Aber das erste Kabel, das tatsächlich Nachrichten durch den Atlantik übertrug, war zugleich die erste dünne Ader des dichten Kommunikationsnetzes, das im 20. Jahrhundert die Welt umspannen sollte.

Sturm, Krieg, Sex, Tragödie

Mit seinem detailprallen Historienroman Rausch lässt John Griesemer das Zeitalter der zweiten technischen Revolution in der Mitte des 19. Jahrhunderts aufleben. Da aber die Verlegung eines Kabels durch den Atlantik an sich mindestens so eintönig ist wie das Surren des Abrollmechanismus, mit dem das Kabel in einer wochenlangen Fahrt vom Schiff ins Meer gelassen wird, konstruiert Griesemer rund um die beteiligten Ingenieure und Geschäftsleute ein Dutzend ereignisreicher Geschichten und verwebt dabei verschwenderisch so viele Themen „großer“ Romane wie nur irgend möglich: Sturm, Krieg, Sex, Tragödie, Leidenschaft, Selbstmord, Vaterkonflikt. Diese großspurige Gangart macht die Lektüre der rund 690 Seiten zwar einerseits ziemlich kurzweilig, lässt aber andererseits die technische Geschichte über weite Strecken zur Kulisse für bunte Privatangelegenheiten verkommen und die stilistische Umsetzung leiden.
Im Mittelpunkt steht das ungleiche amerikanische Bruderpaar Ludlow: Chester, der Ingenieur, der gegen technische Widrigkeiten, das Wetter und skeptische Geldgeber kämpft, um das transatlantische Kabel zu verlegen, und Otis, der Weltenbummler, der auf der Suche nach spiritueller Erfüllung und dem Geist seines Vaters, an dessen Tod er nicht unbeteiligt war, in die entlegensten Winkel der Erde zieht. Chesters Laufbahn als erfolgreicher und bewunderter Ingenieur eröffnet ihm eine heiße Affäre mit der sinnlichen Katerina Lindt, während seine Frau Franny, die den Unfalltod ihres Kindes nach Jahren noch immer nicht verarbeitet hat, Trost in den spiritistischen Experimenten seines Bruders Otis sucht.

Gastauftritte historischer Größen

Dazu Gastauftritte einiger historisch-realer Größen wie Dickens, Lincoln und Marx, ein Dutzend weitere fiktive Figuren und der Zeitungsdokumentarist Trace, der alle Begebenheiten in Handskizzen mitzeichnet und am Ende des Romans sein Lebenswerk vollendet: das Gemälde „Fortschritt des Zeitalters“ – Allegorie und futuristische Vision aller technischer Entwicklung.
Themenreichtum und Wissensfülle sind die eine, positive Seite von Griesemers Mammutwerk, große Gefühle und Weltereignisse die andere, fragwürdige. Mitunter drängt sich der Eindruck auf, Griesemer wollte dem Emotions- und Katastrophenkino Hollywoods Konkurrenz machen. Vom Winde verweht lässt grüßen, wenn alle Hauptfiguren in die Wirren des amerikanischen Bürgerkriegs geraten, Titanic, wenn das größte Luxusschiff des Zeitalters, die „Great Eastern“, zur tragischen Jungfernfahrt aufbricht – große Ereignisse, dargeboten in einem trivialen Stil, der dahinplätschert wie die Wellen an der irischen Küste. Nein, Rausch ist nicht die literarische Sensation, von der einige Kritiker gesprochen haben. Anspruchsvolle Unterhaltung. Nicht mehr. Und auch nicht weniger.

Markus Kuhn

John Griesemer: Rausch. Aus dem Amerikanischen von Ingo Herzke. Mare Verlag 2003. 686 Seiten. 24,90 Euro.