Unruhiges Gewässer sind oftmals flach aber manchmal auch tief
„Halt die Stellung, Daniel – aber bleib am Leben“, appelliert der Koch Dominic Baciagalupo an seinen zwölfjährigen Sohn Danny. Was nicht einfach ist, denn unter den Holzfällern in Coos County, im nördlichen New Hampshire, unweit der kanadischen Grenze, herrschen in den 1950er-Jahren raue Sitten. Danny schafft es, am Leben zu bleiben – doch um welchen Preis? Ein halbes Jahrhundert später ist er ein einsamer Mann, der so ziemlich alle Menschen verloren hat, die ihm etwas bedeutet haben. Die Geschichte von Danny und seinem Vater Dominic erzählt John Irving in seinem neuen Roman Letzte Nacht in Twisted River. Von Petra Vesper
Tatsächlich ist das Leben kein langer, ruhiger Fluss für Dominic und Danny, sondern eine nahezu 50 Jahre währende Flucht vor den Schatten ihrer Vergangenheit – verkörpert von einem besessenen Cowboy mit einem 45er Colt. „Sie lebten in einer Welt voller Unfälle, dachte der Koch.“
Denn dem zwölfjährigen Danny, der bei seinem Vater, einem Koch in einem Holzfällercamp, aufwächst, unterläuft eines Nachts ein folgenschwerer Irrtum: Weil er glaubt, sein Vater wird in seinem eigenen Bett von einem Bären angefallen, greift der Junge zu einer gusseisernen Pfanne und schlägt zu. Leider handelt es sich bei dem vermeintlichen Bären um Indian Jane, die heimliche Geliebte seines Vaters. Und leider ist sie auf der Stelle tot. Und leider ist sie eigentlich die Freundin von Constable Carl, dem versoffenen, brutalen Dorfpolizisten. Noch in derselben Nacht deponiert Dominic mit Dannys Hilfe den Leichnam in der Küche von Constable Carl, damit dieser am nächsten Morgen glauben soll, er hätte seine Freundin im nächtlichen Rausch erschlagen, und verlässt anschließend mit seinem Sohn die Stadt.
Ihre lebenslange Flucht führt Vater und Sohn quer durch die Osthälfte Nordamerikas: Boston, Vermont, Iowa, Toronto. An jeder der Stationen finden Vater und Sohn neue Küchen, in denen sie arbeiten können, und vor allem „Ersatzfamilien“, in die sie sich integrieren, wo sie Freundschaft und Liebe finden. Doch nichts ist von Dauer und immer wieder müssen sie die verlassen, die sie lieben, wenn der Schatten der Vergangenheit droht, zu nahe zu rücken. Oder sie werden verlassen, so wie Danny, dessen Beziehungen zu Frauen meist nicht lange halten. Die verschiedenen Etappen ihrer Flucht bieten Irving die erzählerische Möglichkeit, ein ganzes Arsenal an (Neben-)Figuren einzuführen, ganze Lebensläufe in nur wenigen Sätzen anzureißen und große und kleine Dramen zu entwerfen, die weniger fantasiebegabten Autoren allein für einen ganzen Roman ausgereicht hätten.
Nur eine einzige Konstante gibt es im Leben von Vater und Sohn, die im Laufe ihrer Flucht sogar mehrfach den Namen wechseln müssen: Ketchum – ein knorriger Holzfäller, der einst Dannys Mutter mindestens genau so geliebt hat, wie sein Vater Dominic es tat. Ketchum ist bester Freund (für Dominic), Zweitvater und Ersatzmutter (für Danny), Großvater (für Dannys Sohn Joe) und eine Art Schutzengel für die gesamte Familie – mit dem großen Problem, dass er in den entscheidenden Momenten nicht helfen kann. Schon beim Tode Rosies, Dannys Mutter, Dominics Frau und seiner großen Liebe, war er machtlos. Irving nutzt die Ketchum-Figur – eines Anarchisten, der allein nach seinen Regeln lebt und allen Autoritäten grundsätzlich misstraut – darüber hinaus als bissigen Kommentator des American Way of Life und der amerikanischen Politik. Dabei ist Letzte Nacht in Twisted River kein politisches Buch. Die politischen Ereignisse der letzten 50 Jahre werden nur dann thematisiert, wenn sie für die Figuren eine Rolle spielen (Vietnamkrieg, die Anschläge des 11. September).
Mit Danny verschafft sich Irving ein weiteres Sprachrohr innerhalb des Romans: Er wird Schriftsteller, mehr noch: Bestsellerautor. Irving warnt immer wieder davor, den Schriftsteller Danny Angel als eine autobiografische Figur anzusehen – obwohl er ihm doch seine Biografie leiht: Geburtsjahr, Schule, Studium bei Kurt Vonnegut, der große Durchbruch mit dem vierten Roman – all das stimmt überein. Und trotzdem beteuert der Autor: „Danny ist nicht ich.“ Denn im Gegensatz zu ihm sei er nicht allein und einsam. Dennoch ist es am Ende Danny, der an seinem Schreibtisch sitzt und über den ersten Satz seines nächsten Romans grübelt – es ist jener Satz, den wir über 700 Seiten zuvor gelesen haben. Irving rundet also am Ende Letzte Nacht in Twisted River ab zu einer „Roman im Roman“-Konstruktion: „Er hatte so viel verloren, was ihm lieb geworden war, doch Danny wusste, dass Geschichten Wunder waren – sie ließen sich einfach nicht aufhalten.“
Bären, furzende Hunde, Schriftsteller …
Unvollständige Familien ist eines der großen Themen, die sich durch das Werk John Irvings ziehen – mal ist es die abwesende Mutter, die nur in Form von Fotos präsent ist (Die vierte Hand), meist aber der fehlende Vater, wie etwa in Garp oder in seinem letzten Roman Bis ich dich finde, der die lebenslange Suche eines Sohnes nach seinem Vater schildert. In seinem jüngsten Buch ist es erneut die Mutter, die eine schmerzhafte Leerstelle in der Familie hinterlässt: Als Danny gerade mal drei Jahre alt war, starb sie durch einen dieser „irvingesken“ Unfälle. Sein Leben wird geprägt durch wechselnde Ersatzmütter – darunter tragischerweise eben auch jene Indian Jane. Und auch seinem Sohn Joe kann er keine intakte Familie bieten. Er wird genauso jung zum alleinerziehenden Vater, wie einst sein eigener Vater Dominic.
Darüber hinaus weist Letzte Nacht in Twisted River eine Reihe weiterer Motive auf, die Irving-Leser schon aus früheren Büchern kennen: Bären, furzende Hunde, Schriftsteller, Ringer, dicke Frauen, Sex im fahrenden Auto und mit älteren Frauen oder mysteriöse Sportwagen, die durch Wohngebiete rasen – und doch ist der Roman weit davon entfernt, Bekanntes einfach nur neu zusammenzumixen. Der Irving-erfahrene Leser hat vielmehr das Gefühl, nach Hause zu kommen: Es stellt sich direkt ein Gefühl der Vertrautheit ein, auch wenn die Ausgangssituation – die Männergesellschaft in einem Holzfällercamp und die Arbeit zwischen rollenden Baumstämmen – den meisten Lesern wohl vollkommen fremd ist. Universelle Themen in ganz unterschiedlichen Milieus zu erzählen, das war und ist die große Stärke von John Irving.
Und so variiert auch Irvings zwölfter Roman wieder das große Thema seines Lebens: Die Angst eines Vaters vor dem Verlust seines Kindes. Denn Irving ist nicht nur ein äußerst fantasiebegabter Schriftsteller, sondern auch dreifacher Vater. Und deshalb gelingt es ihm, diese zutiefst menschliche Urangst in immer wieder neue Geschichten zu kleiden. Und die Leser werden Zeugen seiner Alpträume und Horrorvisionen. Es ist sicherlich kein Zufall, dass John Irving und der Horror-Altmeister Stephen King gute Freunde sind.
Eine Art ´Chronik eines angekündigten Todes`
Irving erzählt die fünf Dekaden umspannende Geschichte ähnlich mäandernd wie der namensgebende „Twisted River“ – und gerade am Anfang beschleicht einen zuweilen das Gefühl, der Erzählstrom gerate durch querliegende Baumstämme ein wenig ins Stocken, bevor das dramatische Ereignis der fatalen Verwechslung den Stau endlich losstochert. Doch man sollte sich davor hüten, dem Roman Planlosigkeit zu unterstellen, dem Erzähler Strukturlosigkeit vorzuwerfen. Nichts, aber auch gar nichts ist bei Irving dem Zufall überlassen. Sein Schreiben folgt einem festgelegten Bauplan.
Dass er seine Romane stets mit dem letzten Satz beginnt, sollte sich inzwischen herumgesprochen haben. Schon als Irving 2006 in Europa auf Promotionstour war für seinen letzten Roman Bis ich dich finde, stand jener letzte Satz schon fest: „Er hatte das Gefühl, dass das große Abenteuer seines Lebens gerade erst begann – so musste sich sein Vater gefühlt haben, in den Nöten und Qualen seiner letzten Nacht in Twisted River.“ Dass sich darin auch der Titel des Romans verberge, sei eher eine Ausnahme, so Irving. Unumstößlich sei dagegen die Regel, dass dieser letzte Satz während des ganzen Schreibprozesses nicht mehr verändert werde – ganz im Gegensatz zum Rest eines Irving-Romans übrigens, der in mehrfachen Schritten wieder und wieder überarbeitet wird. Letztlich, so betont der Schriftsteller in Interviews, interessiere ihn die Architektur und der Aufbau seiner Romane viel mehr als der Plot. Beim Schreiben arbeite er sich vom Ende zum Anfang vor: Was seinen Figuren im Laufe eines Romans zustoße, das wisse er daher immer schon recht früh – entscheidend sei also das Wann, Wie und Wo.
Und so erlebt auch der Leser Letzte Nacht in Twisted River: Gewalt gebiert immer Gegengewalt, das ist von Anfang an klar – deshalb läuft der Roman von seinem Beginn, der fatalen Verwechslung, unausweichlich auf einen finalen Showdown zu. Der Leser ahnt, dass Danny ganz allein dastehen wird. Mit seinen unzähligen Zeitsprüngen, Vorausdeutungen und Rückblicken lässt Irving so etwas wie die „Chronik eines angekündigten Todes“ entstehen: Der Tod einer Figur wird – manchmal nur mit einem lakonischen Halbsatz am Ende eines Kapitels – angedeutet, um dann einige Kapitel und dutzende Seiten später eingelöst zu werden. „Cliffhanger“ nennt man im Film – mit dem sich Irving ja ebenfalls bestens auskennt – diese Technik, Spannung aufzubauen. Und tatsächlich gelingt es ihm mühelos, den Spannungsbogen des Romans (der in der deutschen Übersetzung übrigens mit 730 Seiten nochmals knapp 200 Seiten umfangreicher ausfällt als das auch nicht gerade schmalbrüstige englische Original) über die volle Distanz hinweg aufrechtzuerhalten.
Der Sog, den Letzte Nacht in Twisted River entfaltet, ist so unaufhaltsam wie die Trift der Baumstämme – ist einmal der entscheidende Stamm gelöst, gerät die ganze Masse in Bewegung und es gibt kein Halten mehr. So wie das Wasser des Twisted River den jungen kanadischen Holzarbeiter Angel in der Eröffnungssequenz, so verschlingt auch dieser Roman seinen Leser mit Haut und Haaren und gibt ihn nicht wieder frei.
Petra Vesper
John Irving: Letzte Nacht in Twisted River.
Deutsch von Hans M. Herzog.
Diogenes Verlag 2010. 732 Seiten. 26,90 Eur