Geschrieben am 7. August 2006 von für Bücher, Crimemag

Jörg Juretzka: Sense

Randale im Revier

Kaum eine andere deutsche Region ist für ihren rauen Charme so berüchtigt wie das Ruhrgebiet. Der in Mülheim geborene Jörg Juretzka hat diese behäbig-ruppige Mentalität zum Markenzeichen seiner Krimis um den Privatermittler Kristof Kryszinski gemacht. In seinem ursprünglich ersten Kriminalroman „Sense“ gibt er eine appetitanregende Kostprobe davon.

Am Anfang war Schimanski. Mit dem erfolgreichen Fernsehauftritt des Ruhrpott-Raubeins zu Beginn der achtziger Jahre mauserte sich das Kohlenrevier zu Deutschlands Krimischauplatz Nummer Eins. Hinter der landschaftlichen und geistigen Tristesse dieser Region lauerten von nun an Mord und Misshandlung, Betrug und Erpressung. In dem fruchtbaren Humus von Arbeitslosigkeit und Aussichtslosigkeit gediehen Verbrechen schließlich besser als anderswo. Es war also nur eine Frage der Zeit bis die schreibende Zunft ihre spannenden Plots und schrägen Charaktere in diese Region verlegte. Seit gut einem Jahrzehnt sind nun in Essen, Dortmund und Duisburg diverse Privatermittler unterwegs, um den Ruhrpott von seinen schwärzesten Schafen zu befreien.

Doch keiner von ihnen kommt so wunderbar „abgefahren“ daher wie Juretzkas unkonventioneller Privatdetektiv Kristof Kryszinski, der sich blindlings für schnelle Autos, harte Drogen und sexy Frauen erwärmen kann. Wie vielen seiner literarischen Berufsgenossen bringt ihm sein lebensgefährlicher Job statt Geld nur Prügel, statt Anerkennung nur Misstrauen ein. Und davon reichlich. Die Suche nach dem plötzlich mit einer hübschen Stange Geld verschwundenen Gatten einer reichen Spielhallenbesitzerin wächst sich für Kryszinski zu einer brutalen Tour de force aus. Dass er bei seinen kruden Ermittlungsmethoden einen Unterweltboss gegen sich aufbringt und Knochenbrecher auf den Hals gehetzt bekommt, ist das eine. Dass der vermisste Ehegatte in Kryszinskis Wohnung tot aufgefunden wird und ihn zum Hauptverdächtigen werden lässt, ist das andere.

Abgefahrene Abenteuer

Aus dieser unheilvollen Verkettung unglücklicher Begebenheiten löst sich Kryszinski mit verzweifelten Vergeltungsaktionen, die nun eindeutig den Straftatbestand erfüllen. Mit einem zertrümmerten linken und einem zerfleischten rechten Arm rettet er sich schließlich in seine Stammkneipe, wo der wahre Mörder auf ihn wartet und nun alles zur Auflösung des Falles drängt. Doch nicht der erwartungsgemäß gewaltsame Schluss macht die gut 200 Seiten so kurzweilig. Kryszinskis aus Gefahr und Gefühlen heraus geborene Sprüche tragen den eher beiläufig inszenierten Plot, aber auch einzelne Szenen. Auf welch abenteuerliche Weise er immer wieder den Hals aus der Schlinge zieht, wird nicht nur grotesk, sondern auch höchst amüsant und anschaulich beschrieben. Die bis ins kleinste fahrtechnische und psychologische Detail geschilderte Verfolgungsjagd in „Sense“ sucht in der Krimiwelt genauso ihresgleichen wie die lebhafte Überzeichnung der einzelnen Figuren.

„Sense“ ist sprachlich und inhaltlich so rasant wie die Autos, die Kryszinski in diesem Roman zu Schrott fährt. Juretzka ist kein Ruhrpott-Chandler, wie einst der SPIEGEL schrieb, und Kryszinski kein Ruhrpott-Marlowe. Weder Chandlers noch Juretzkas Krimis wird man mit solch einem Etikett gerecht. Chandlers cool kalkulierte Metaphern haben nichts mit den bodenständig-provinziellen Juretzkas gemein. Ganz zu schweigen von der illusionslosen Schwermut, die nur in der Hitze Kaliforniens und jener, die nur in den Rauchschwaden des Ruhrgebiets gedeiht. Nur eines wird Juretzka bald mit Chandler verbinden – der Rang eines Klassikers.

Jörg von Bilavsky

Jörg Juretzka: Sense. Ein Kriminalroman. Aufbau Verlag, Berlin 2006. 240 Seiten. 7,95 Euro. ISBN 3-7466-2616-5