Geschrieben am 13. März 2004 von für Bücher, Litmag

Juri Rytchëu: Der letzte Schamane

Zauber aus dem Eis

Der Márquez der Eiswüste hat seine „Hundert Jahre Einsamkeit“ geschrieben…

Schon Juri Rytchëus Roman „Teryky“, diese maärchenhafte Liebesgeschichte vom Rand der uns unbekannten Welt, hat sich für immer einen Platz in meinem Herzen erobert. Und auch in den Buchhandlungen haben sich die Romane Rytchëus zu Longsellern entwickelt: Der erste Autor des nur zwölftausend Menschen zählenden Volkes der Tschuktschen hat im Laufe der Jahre ein Vielfaches an Lesern gewinnen können. Er ist die Stimme einer alten Kultur, die zwischen der (früheren) Sowjetunion und den USA zu verschwinden drohte.

In seinem neuen Roman Der letzte Schamane erzählt Rytchëu nun die Geschichte seines Volkes, die auch zur Geschichte seiner Familie wird.

Bis zur Schöpfungsgeschichte nach der Überlieferung der Nordpolarvölker reicht Rytchëus Chronik zurück – und es ist erstaunlich, wie viele Parallelen sich zu uns bekannten Religionen finden lassen – und wo eklatante Unterschiede vorliegen. So war nach tschuktschischer Überlieferung der erste Mensch eine Frau. Ein Wal, der zum Sommerbeginn an Land geht und sich in einen schönen Jüngling verwandelt, ist der männliche Uhrahn des Volkes – und so kommt es zum Sündenfall, als erstmals ein Mensch einen Wal tötet.

Auf der Reise zu den Wurzeln der Tschuktschen begegnen wir auch kurz der Sage des Teryky, und später werden dem passionierten Rytchëu-Leser noch weitere Personen bekannt vorkommen…

Im Zentrum der Geschichte steht jedoch Mletkin, der Mann, der der letzte Schamane seines Volkes sein wird. Von seinem Großvater in die Geheimnisse des Schamanismus eingeführt, begeht er bei einem Jagdzauber einen Fehler, der Hunger und Tod über den Stamm bringt. Um seine Berufung zu prüfen, wählt er das Exil, die Wanderschaft. Eine Vision in der Eiswüste gibt ihm das Vertrauen in seine Fähigkeiten zurück, er heilt mit seinen Kräften ein krankes Mädchen vom Stamm der Rentierzüchter. Dieses Mädchen ist für ihn als Frau vorherbestimmt. Doch sein Wissensdurst bringt ihn dazu, sich Reisenden anzuschließen, die Sprachen der Fremden zu studieren, Lesen und Schreiben zu lernen. Seine Reisen führen ihn bis nach San Francisco und New York, als er eines Tages zurückkehrt, hat bereits das Gerücht seines Todes die Runde gemacht, die ihm versprochene Frau ist bereits verheiratet und Mutter eines Sohnes.

So wie Gabriel García Márquez in seinem Roman Hundert Jahre Einsamkeit die Geschichte seiner Heimat niedergeschrieben hat, von der Gründung des Ortes Macondo über Pionierzeit, Bürgerkriege und Einzug des Fortschrittes, der die Welt für immer verändern wird – genauso hat Rytchëu die Chronik seiner Familie geschrieben. Während Márquez seinen realen Geburtsort Aracataca mit dem fiktiven Namen Macondo belegt, erzählt Rytchëu ohne Verklausulierung von „seiner“ Siedlung Uëlen.

Während Macondo den Einzug des Fortschritts durch den Anschluss an das Telegraphen- und Eisenbahnnetz erfährt, brechen über Uëlen die neuen Zeiten mit der Ankunft der Fremden mit großen Schiffen herein. Sie bringen Missionare, neue Waffen und vor allem den Alkohol.

Wie auch bei Márquez spielen Magie und Vorsehung, die Vermischung von Fakt und Fiktion eine große Rolle. So wird Mletkin durch einen Schamanenzauber zur Sensation auf der Weltausstellung in Chicago.

Es mag literaturwissenschaftlich gesehen vielleicht nicht haltbar sein, diese beiden Bücher miteinander zu vergleichen, zu entgegengesetzt erscheinen die Kulturkreise, aus denen die Autoren stammen. Doch der Zauber, der sich von beiden Büchern auf den Leser überträgt, ist derselbe. Lassen Sie sich von diesem Zauber einfangen…

Frank Schorneck

Juri Rytchëu: Der letzte Schamane. Die Tschuktschen-Saga. Deutsch von Antje Leetz. Unionsverlag 2002, 351 S.. 19,80 ¤. ISBN: 3293002994