Top, die Wette gilt
„Auf ganzer Linie“ ist ein rasanter und ungemein witziger Roman. Eine Hass-Liebeserklärung an das ebenso marode wie wichtige Londoner Fortbewegungsmittel U-Bahn.
Was Männer nicht alles leisten, wenn sie das Wettfieber greift: Da wettet einer im Jahr 1872, die Erde in 80 Tagen umrunden zu können, ein anderer wettet im Jahre 2001, das Londoner U-Bahn-Netz an einem Tag komplett abfahren zu können. Nun gut, die Erdumrundung ist heute ein Klacks, aber die Londoner Underground ist feindliches Terrain für jeden, der es eilig hat.
Der 1970 geborene Keith Lowe schickt den U-Bahn besessenen Andy an einem nasskalten und verkaterten Morgen mit einer Tüte Fun-Cameras auf eine Odyssee durch London. 265 Stationen hat die Underground und der Rekordhalter brauchte 18 Stunden und 19 Minuten, um sie alle abzufahren. Doch der war gut vorbereitet mit einem ausgeklügelten Plan. U-Bahn-Freak Andy jedoch behauptet, die Aufgabe auch ohne Vorbereitung bewältigen zu können.
Wenn ein Mann wirklich davon überzeugt ist, eine Wette zu gewinnen, dann zeigt er das auch durch einen entsprechend hohen Wetteinsatz – vor allem, wenn eine Menge Alkohol und Stolz im Spiel sind. So steht plötzlich Andys komplette Zukunft auf dem Spiel, denn dummerweise startet die Wette am Tag vor seiner Hochzeit und seine Papiere, Kreditkarte und die Fahrkarte für den Zug nach Paris, wo die Trauung stattfinden soll, muss sich Andy aus verschiedenen Schließfächern entlang der Strecke zurückerobern.
Andys Zukünftige hat wenig Verständnis für die Wette – und dabei hat sie noch nicht einmal die leiseste Ahnung, worin der Wetteinsatz besteht.
„Auf ganzer Linie“ ist ein rasanter und ungemein witziger Roman. Eine Hass-Liebeserklärung an das ebenso marode wie wichtige Londoner Fortbewegungsmittel. Mit originellen Ideen bricht er die Erzählstruktur stets aufs neue auf: Kapitel 27 ist als Schnellrate-Runde einer Quiz-Show aufgebaut, im Feierabendverkehr des Kapitels 38 rücken selbst die Wörter eng zusammen und an Kapitel 29 hätte Laurence Sterne seine Freude gehabt.
Und während Andy unter der Erde Station um Station fotografiert und gegen die alltäglichen Tücken von Verspätungen, Zugausfällen, Selbstmorden und Bombendrohungen ankämpft, droht oberirdisch seine Hochzeit zu platzen.
In der Straßenbahn ist von der Lektüre abzuraten – wenn man seine Haltestelle nicht verpassen will.
Frank Schorneck
Keith Lowe: Auf ganzer Linie. Deutsch von Claus Varrelmann und Annette von der Weppen unter Mitarbeit von Marieke Heimburger. Piaza (Heyne), 432 Seiten, 29,24 DM. ISBN: 3-453-19802-6