Des Meisters Erfolgsrezept: Der Klassik-Krise mit Bezug zu aktuellem Kontext beikommen!
–Peter Münder über Kent Naganos „Erwarten Sie Wunder“.
In der nächsten Spielzeit wird Kent Nagano in Hamburg als Generalmusikdirektor und Chefdirigent der Oper sowie der Philharmoniker den Spielplan gestalten. Der Dirigent ist zwar kein Missionar, aber er will unbedingt verhindern, dass sich der Dornröschenschlaf in den Konzerthallen fortsetzt, wo ein eher betagtes Publikum sich an einen Spielplan mit Evergreens der klassischen Musik gewöhnt hat und keine neuen Impulse mehr erwartet. Nagano will dagegen sozusagen als „Groß-Motivator“ der Klassik ein neues Publikum erschließen und das Interesse der Jugend für Beethoven, Bach, Mozart, Debussy, Mahler, Bruckner, Ravel und auch für zeitgenössische Komponisten wecken. Er plädiert daher für die Vermittlung aktueller, gesellschaftlich relevanter Kontexte durch die Musik: Wenn man etwa den ersten Satz der 7. Beethoven-Symphonie höre, erklärte er jetzt bei der Vorstellung seines Buchs „Erwarten Sie Wunder“ im Rahmen einer gelungenen NDR-Sendung mit „Kulturjournal“-Moderator Christoph Bungartz im Hamburger Rolf-Liebermann-Studio, dann wäre es offensichtlich, dass die im heiteren Rhythmus zu hörenden Schläge von Holzfällern stammen, die während einer Boom-Phase vorindustrieller Expansion im Wiener Wald Bäume für den Neubau von Häusern und Fabriken fällten. Und die allmählich sich verdüsternden und sinister pochenden Akkorde wären als Klage über die Zerstörung der Natur zu verstehen. Da fragt man sich schon, ob Beethoven etwa der erste grüne Komponist von Weltrang war, der sich für nachhaltiges Wirtschaften einsetzte? Diese These würde Nagano wohl für etwas übertrieben halten, aber sein starkes Engagement für die Klassik zielt auf kompromisslose Klarheit und Aktualisierungs-Aspekte ab, die neue Hörer begeistern und mitreißen soll. Nagano war während seiner Münchener Jahre ein besonders beliebter und geschätzter Chefdirigent, bis er dann plötzlich vom bajuwarischen Kultur-Apparat ausgebootet wurde – was der völlig uneitle Maestro nie kritisch oder hämisch kommentiert hat.
In Montreal leitet Nagano schon seit zwölf Jahren das Symphonie-Orchester; er hat dort eine Reihe über „Helden“ ins Leben gerufen, die sofort zum Stadtgespräch wurde und vom jüngeren Publikum begeistert aufgenommen wird. Die Konzerte finden nämlich in einer Eishockey-Arena statt, die gefeierten Helden sind Eishockey-Stars und die dynamischen Akkorde , die da durch die Halle donnern, stammen von Beethoven und anderen Meistern. Er wolle sich aber nicht bei jungen Zielgruppen anbiedern, erklärt Nagano: Die Masche, Popmusik mit Klassik zum Hipster-Hybrid zu verquirlen, findet er absolut ekelhaft. Und milde lächelnd weist er darauf hin, dass er ursprünglich einen langen Vortrag über Nietzsche in der Eishockey-Halle halten wollte, was seine Freunde aber gerade noch rechtzeitig verhindern konnten. Keine Frage: Nagano wehrt sich gegen das angestaubte Mainstream-Repertoire, das zwar als hehres Bildungsgut absorbiert wird, mit dem die meisten Hörer jedoch nicht mehr viel anfangen können.
Er ist 1951 in Berkeley als Sohn musikliebender Akademiker geboren, hatte schon als Kind in Musikgruppen mitgespielt, im Chor gesungen und das Schulorchester bereits als Achtjähriger dirigiert. In seinem lesenswerten Buch, dessen englischen Titel „Expect the unexpected“ man ja eigentlich mit „Erwarte Überraschendes“ übersetzen müsste, poliert er sein eigenes Denkmal jedenfalls nicht auf Hochglanz. Er will sich nicht als großer Zampano im Rampenlicht sonnen – das wollte er ja noch nie. Sein Buch ist auch keine klassische Biographie, sondern ein Mix aus Überlegungen zum Stand der Klassik-Misere, die mit seinen originellen Verbesserungsvorschlägen angereichert sind. Seine aus Japan ausgewanderten Großeltern hatten sich am Pazifik als Gemüsebauern niedergelassen; er wuchs im kalifornischen „klingenden Fischerdorf“ Morro Bay auf, studierte Soziologie und Musik in San Francisco und wurde dann Dirigent. Für Nagano gehörte die Musik immer schon zum Alltagsleben. In seinem Dorf genossen alle das Musizieren in Gruppen und die daraus resultierenden intensiven sozialen Kontakte. Das alles sind vielleicht nostalgische Rückblicke auf eine heile, weitgehend konfliktfreie Welt. Nagano macht aber auch deutlich, dass ihm die beflügelnde Welt der Musik vielleicht völlig verschlossen geblieben wäre, hätte er nicht schon früh seinen großartigen Mentor, den Georgier Wachtang Korisheli gefunden, der ihn mit begeisterter Hingabe unterrichtet und gefördert hatte.
Für Nagano begann der Niedergang dieser musikalischen Kultur mit Sparmaßnahmen, die den kalifornischen den Kulturetat rigoros beschnitten und das bis dahin blühende Kunst- und Musikleben fast zum Erliegen brachten. Seine Kritik an den überall eingedampften Kulturetats ist sicher berechtigt, er tendiert aber dazu, die amerikanischen Verhältnisse zu vereinfachend und generalisierend auch auf die deutschen Zustände zu übertragen. Das wird den vielen Bemühungen von Musik-Initiativen, Wettbewerben usw. hierzulande natürlich nicht gerecht, erklärt aber seinen Groll gegen selbstzufriedene Hierarchien im Musikbetrieb und seinen Enthusiasmus für innovative Musik-Ereignisse und Interpretationen.
Faszinierend wird es, wenn Kent Nagano sich über interdisziplinäre Aspekte auslässt und berichtet, was etwa Neurologen oder Anthropologen über die Wirkung der Musik aufs menschliche Gehirn bei ihren Untersuchungen herausfanden: „Bei Musik hörenden Babys haben Mediziner mit Wärmekameras rot leuchtende Zonen des Gehirns entdeckt – da waren diese für Kreativität und Phantasie verantwortlichen Bereiche besonders aktiviert worden“, berichtete er begeistert bei der NDR-Buchvorstellung .
Sein Buch wird jedoch gelegentlich redundant, wenn er immer wieder auf den enormen gesellschaftlichen Stellenwert von Musik abhebt. Es ist aber erfrischend und originell, wenn dieser sympathisch-charismatische Künstler erhellende Interpretationen bekannter Klassiker anbietet, seine Einfälle für einen neuen Zugang zu bekannten Werken erläutert oder eigene Erfahrungen und Begegnungen im internationalen Musikbetrieb beschreibt.
Peter Münder
Kent Nagano (mit Inge Kloepfer): „Erwarten Sie Wunder!“ Berlin Verlag 2014. 315 Seiten. 22,99 Euro. Abbildung: NDR, zum Ausschnitt der Buchvorstellung.