Geschrieben am 1. Januar 2006 von für Bücher, Litmag

Kirsty Gunn: Der Junge und das Meer

Von Wellen und Menschen

Der überpräsente Vater, das Meer und der Junge, der erwachsen wird – Kirsty Gunn spiegelt die Initiationsgeschichte eines Jungen in den Stimmungen des Meeres. Von Markus Kuhn

Der Junge und das Meer? Klingt das nicht etwas zu …groß? …effektsüchtig? …übertrieben? Das Meer: Spiegel der Sehnsucht, Projektionsfläche unserer Wünsche, Spielwiese der Poesie … Und dann diese Anspielung auf Hemingway: „Der alte Mann und das Meer“ – dasjenige Buch Hemingways, das sogar Kritiker des amerikanischen Macho-Schreiberlings loben würden …

Und tatsächlich: Die Neuseeländerein Kirsty Gunn hat sich viel vorgenommen mit der kurzen Erzählung „Der Junge und das Meer“. Viel und – so paradox das klingt – gleichzeitig wenig.
Viel, weil sie in „Der Junge und das Meer“ die Initiationsgeschichte eines Jugendlichen auf den Punkt bringen will. Der entscheidende Schritt vom Jungen zum Mann, die Auflehnung gegen die überpräsente Vaterfigur, die Ablösung von den Zärtlichkeiten der Mutter, die Zuwendung zu gleichaltrigen Mädchen, erste, vorsichtige Vorahnungen der Liebe … Das alles will sie erzählen, ohne es beim Wort zu nennen. Es soll aufblitzen in den wenigen Stunden eines Tags am Meer, den die Erzählung beleuchtet. Es soll sich widerspiegeln in den Regungen des Meeres und der Wellen, in der Lebendigkeit des Ozeans.
Wenig, weil sie einfach nur den Gedanken eines sensiblen, verschlossenen, etwas verklemmten Jungen folgt, der einen Tag am Meer verbringt, dem das Meer nicht nur deshalb so viel bedeutet, weil er leidenschaftlicher Wellenreiter ist, sondern auch, weil er mit dem Meer auf höchst eigene Weise kommunizieren kann. Auch für seine Familie ist das Meer immer schon der Hauptbezugspunkt im Leben gewesen, denn sein von allen Freunden und Mädchen bewunderter Vater ist der beste Surfer weit und breit. Der Held, dessen Schatten dem Jungen vorauseilt.

Ward, so heißt der Junge, ist fünfzehn und verbringt die Ferien mit seinen Eltern am Meer. Er geht viel lieber alleine oder mit seinem besten Freund surfen, statt sich unter Gleichaltrigen durch coole Posen und originelle Sätze bewähren zu müssen. Aber dann bereiten die Mädchen ausgerechnet eine Party vor. Und ohne es sich einzugestehen, möchte er die neu angereiste Alison kennen lernen. Ein Wunsch, den er spürt, ohne ihn zu kennen. Doch ein Kuss ist für Ward ein größeres Abenteuer als eine überdimensionale Welle.

Ambivalenz in Anspruch und Ergebnis

So ambivalent die Ansprüche des Buches sind, so ambivalent ist das Ergebnis. Kirsty Gunn hat ein beeindruckendes Sprachgefühl und eine ebenso beeindruckende Beobachtungsgabe. Es gibt Passagen, in denen sie sich der poetischen Kraft des Meeres, den zarten Gefühlen des Heranwachsenden oder dem dramatischen Moment, in dem ein Surfer die Welle seines Lebens erwischt, derart intensiv annähert, dass man sich in ihren Beschreibungen verliert und intensive, gewaltige Bilder vor Augen hat.

Andererseits gibt es aber auch die aufdringlichen Einmischungen einer als „Ich“ hervortretenden Erzählerstimme, übertriebene Personifizierungen des Meeres – das plötzlich sogar sprechen kann – und zu offensichtlich eingesetzte Wiederholungen und Lautmalereien, die anstrengend sind. All das wäre nicht nötig gewesen. Etwas mehr Hemingway’scher Lakonismus hätte hier gut getan.

So ist „Der Junge und das Meer“ ein teilweise bildmächtiges und atmosphärisches, teilweise überambitioniertes Werk, das wegen der Faszination für das Meer als Element und Medium perfekt ins mare-Programm passt. Ein kleines Trostpflaster für alle, die in diesem Jahr den Sommer vermisst haben. Wegzulesen an einem Nachmittag, ob am Strand oder auf dem Sofa, während der Regen ans Fenster prasselt.

Markus Kuhn

Kirsty Gunn: Der Junge und das Meer
Erzählung.
marebuchverlag,
Geb. 140 S.,, 15 Euro
ISBN 3-936348-19-3

20.09.2006