Das Gedächtnis des Kommunismus
– Hierzulande ist Lucio Magri (1932-2011) vor allem durch seine fulminanten Aufsätze zum Pariser Mai 1968 und als Mitbegründer der Tageszeitung Il Manifesto bekannt. Er war ein Repräsentant der Neuen Linken, die sich in Frankreich und Italien vor 1968 neu formierte. In Frankreich wurden ihre Anhänger vor 1968 aus der stalinistisch geprägten Kommunistischen Partei ausgeschlossen, in Italien danach. Im Fall von Lucio Magri geschah dies 1969. Er begründete mit anderen 1974 die Proletarische Einheitspartei für den Kommunismus, deren Generalsekretär er wurde. 1984 löste sich diese in der Kommunistischen Partei Italiens (KPI) auf. Bis zur Selbstauflösung der KPI 1991 war Magri in dieser Partei aktiv. Er war danach an der Formierung der mittlerweile ebenfalls gescheiterten Partei der Kommunistischen Wiedergründung beteiligt. Von Elfriede Müller.
„Der Schneider von Ulm” ist nicht nur die Geschichte des italienischen Kommunismus der Nachkriegszeit, sondern auch die Schilderung von Magris Lebenswerk und die verpassten Möglichkeiten einer Massenpartei, die ihre Entstalinisierung selbst umsetzte und „ein Volk mit aufrechtem Gang“ (S. 364) hervorgebracht hat. Wie Italien nach dem Abtritt der KPI aussieht, erlebten wir am deutlichsten an der Charaktermaske Berlusconis. Genauso erstaunlich wie das Verschwinden dieser mal einflussreichsten Partei Italiens und der stärksten westlichen Kommunistischen Partei war die ausbleibende Geschichtsschreibung ihrer Akteure. Lucio Magri hat aufgrund dieses Mangels seinen Freitod verschoben, den er bereits nach dem Tod seiner Geliebten Mara wählen wollte. Dieses Versprechen, das er ihr auf dem Totenbett gab, vollendete er 2009.
Magri, der von einem „menschlichen Bedürfnis nach kommunistischer Identität“ ausgeht, war selbst ein kommunistischer Häretiker und gerade deshalb verkörperte er mehr als mancher Parteisoldat das kommunistische Erbe vor seiner Stalinisierung. Mit den anderen Il Manifesto Begründern – die deshalb wegen Verstoß gegen die Parteidisziplin aus der KPI ausgeschlossen wurden – betrachtete Lucio Magri die KPI als einen gesellschaftlichen Prozess. Überraschend war, was auch außer in Italien nirgendwo vorkam, dass diese Gruppe von Häretikern wieder in die KPI zurück durfte. Diese Rückkehr überzeugt jedoch auch nach den fast fünfhundert Seiten Lektüre nicht wirklich.
„Der Schneider von Ulm” ist ein sehr detailliertes Geschichtsbuch, das – wie könnte es auch anders sein – die Nachkriegsgeschichte von Italien erzählt und die entscheidende Rolle der KPI bei der Demokratisierung eines Landes, das von 1922-1944 ein faschistischer Staat war. Magri bezieht sich in seinem Buch auf „eine historische Erfahrung in ihrer Gesamtheit, deren expliziter Leitgedanke eine antikapitalistische Revolution war“ (S. 20). Der Autor hält sich sehr lange beim „Dritten Weg“ auf, d. h. einer Abweichung von den zwei Blöcken des Kalten Krieges und einer Emanzipation von der Sowjetunion. Magri selbst stieß erst nach dem 20. Parteitag der KPDSU zur KPI, er kannte den westlichen Marxismus, Gramsci und Trotzki.
Die Geschichte beginnt am Anfang: mit dem Erbe der Gründung, dem Ersten Weltkrieg, um deutlich zu machen, welche Verantwortung Kapitalismus und Liberalismus für das Desaster des 20. Jahrhunderts innehaben und die Größe der damals noch sozialdemokratischen Häretiker, als sie die Kriegsbegeisterung ablehnten und danach zu Kommunisten wurden. Magri schreibt sich in die Tradition der Oktoberrevolution und ihre mobilisierende Kraft im ersten Teil des 20. Jahrhunderts ein, ohne diese Revolution nur als Selbstzweck zu betrachten. Anhand der Bürokratisierung der ersten erfolgreichen sozialistischen Revolution macht der Autor die Bedeutung klar, die Pluralismus und Demokratie in der Bilanz für eine Linke einnehmen müssen: eine Erfahrung, die die KPI begriffen hatte.
Die manchmal – auch durch die Detailfülle – zähe Lektüre macht deutlich, dass die Geschichte auch hätte anders verlaufen können, dass Möglichkeiten verpasst wurden, bereits zur Zeit des siegreichen Nationalsozialismus. Dass dies auch viele italienische Kommunisten dachten, macht u. a. ihre Beteiligung am Spanischen Bürgerkrieg deutlich, in dem die KPI das größte Kontingent der Internationalen Brigaden stellte. Überraschend ist, dass Magri den Hitler-Stalin Pakt fast rechtfertigt, indem er argumentiert, dass die Sowjetunion Zeit gewinnen musste, „um nicht ein isoliertes Opfer zu werden“ (S. 45).
Die Geschichte des italienischen Kommunismus ist ohne Gramsci nicht denkbar, auf diese Besonderheit und Weichenstellung weist Magri ausführlich hin. Schließlich hatte Gramsci in den „Gefängnisheften” das Scheitern der westlichen Revolutionen analysiert und auf die kulturellen und politischen Wurzeln der verschiedenen Klassen hingewiesen.
Hymnisch beschreibt Magri den italienischen Partisanenkampf, der zu einer Volkserhebung wurde, „große Massen mit dem Kommunismus verband und eine Zukunftsstrategie“ entwarf. Wie in Frankreich erlangte der Widerstand nicht die Macht und die Partisanen hatten (zum Großteil jedenfalls) die Waffen abgegeben. Magri schreibt von einer „gebremsten Revolution“. Die KPI verbreitete ihren Einfluss nun auf legalem Weg und hatte 1946 bereits zwei Millionen Mitglieder. Als stärkste westliche Partei übersteht sie den durchaus blutigen Kalten Krieg. Italien steht viel mehr als Frankreich unter dem Einfluss der Alliierten, der sich auch darin zeigte, die KPI trotz ihrer Stärke nicht an der Regierung zu beteiligen, analog zur so genannten Truman-Doktrin, die später zum Atlantikpakt wurde.
Geschichte der kommunistischen Weltbewegung
Magri hat große Hochachtung vor Palmiro Togliatti, der von 1947-1964 Generalsekretär der KPI war, nach der Niederschlagung des ungarischen Aufstandes einen eigenen Weg zum Sozialismus proklamierte und sich damit in die Reihe der osteuropäischen Erneuerer stellte. „Der Schneider von Ulm” erzählt auch die Geschichte der kommunistischen Weltbewegung und ihrer Erstarrung, sowie die Aufstände und Abtrünnigkeiten dagegen. Damit wird die Möglichkeit eines demokratischen Sozialismus in einigen Volksdemokratien wie Polen, Ungarn und vor allem der Tschechoslowakei noch mal deutlich und damit die verpasste Chance einer völlig anderen Entwicklung Europas.
Wie in Frankreich wurde die 68er Bewegung in Italien nicht allein von Studenten, sondern auch von den Arbeitern getragen. Nicht so drastisch wie im Nachbarland, aber auch nicht wirklich unterstützend, agierte die KPI, um die Bewegung zu fördern und darin eine Rolle zu spielen. Auch dies war eine der vielen verpassten Möglichkeiten, die später den bewaffneten Kampf hervorbrachte, nachdem die von den Operaisten genannte „neue Arbeiterklasse“ sich doch nicht so wie erwartet durchsetzte.
Die Demokratisierung der KPI hatte weniger dazu beigetragen, soziale Bewegungen außerhalb ihrer klassischen Bereiche zu unterstützten, sondern eher dazu, ein Teil des parlamentarischen Systems zu werden, entweder mit den Sozialisten oder aber sogar mit den Christdemokraten. Also eine Orientierung nach rechts, statt nach links. Gleichwohl manifestierte sich in den Sechzigerjahren zum ersten Mal in einer kommunistischen Partei eine undogmatische und nicht stalinistische Linke, auch wenn sie wie der spätere Eurokommunismus die Auseinandersetzung verlor. Magris These lautet, dass in den frühen Sechzigerjahren die Krise der kommunistischen Bewegung noch am Anfang stand und der Lauf der Dinge gebremst und korrigiert, wenn nicht „gar umgekehrt“ (S. 204) hätte werden können. Spätestens jedoch der Einmarsch in die Tschechoslowakei 1968 machte jegliche Hoffnung auf eine reformierbare Sowjetunion zunichte. Aber Magri zufolge waren beide Lager des Kalten Krieges in einer Krise und eine Revolution im Westen erschien wieder ein Möglichkeitshorizont, basierend auf der Idee Gramscis, dass die Revolution im Westen zunächst als soziale Bewegung voranschreiten sollte. Doch die Antwort der KPI auf „die langen 68er Jahre“ war die nationale Einheit statt eine Verschmelzung mit den existierenden sozialen Bewegungen und der neuen italienischen Arbeiterbewegung. So unterschiedlich die beiden Länder auch gewesen sein mögen, die nationale Option und die Stärkung der Regionen anstatt der Demokratisierung der eigenen Organisation wie der gesamten Gesellschaft, hat in Jugoslawien wie in Italien zur jeweiligen Auflösung der Kommunistischen Parteien geführt. Die schließlich in Italien angewandte Strategie der Spannung, die diversen Staatsstreichpläne und Geheimdienstaktionen, wurden von der KPI nicht konsequent bekämpft und eine Mobilisierung dagegen blieb aus.
Melancholie über die inhaltliche Schwäche eines großen emanzipatorischen Traums
Die Gründung von Il Manifesto schrieb sich in einen dritten Weg ein. Die Zeitung wollte Ideen produzieren, einen Kommunikationskanal zwischen den neu entstehenden Bewegungen und einer wertvollen Tradition – die der KPI – anbieten und kritisch über beides reflektieren. Währenddessen bildete sich Ende der Siebzigerjahre der Historische Kompromiss heraus, ein Nachhall der verfehlten Volksfrontpolitik der Kommunistischen Parteien der Dreißigerjahre. Magri dekonstruiert Aldo Moro und macht klar, dass die Union mit den Christdemokraten keine Lösung für eine emanzipatorische Politik darstellte. Er propagierte dagegen eine Einheit der Linken, die 47 Prozent der Stimmen auf sich vereint hatte – die aber nur ganz kurz zustande kam. Magri macht auch die KPI dafür verantwortlich, dass ein Teil der massiven Jugendbewegung von 1977 sich für den selbstmörderischen bewaffneten Kampf entschied, da die Befürchtung bestand, Italien würde mit der Duldung der Andreotti-Regierung durch die KPI in ein autoritäres Regime abdriften. Deutlich wird auch, dass der bewaffnete Kampf in Italien Ausdruck einer Niederlage war und eine verzweifelte Antwort auf die Spaltung der sozialen Bewegungen. Die KPI brach zur selben Zeit mit dem Marxismus und distanzierte sich von der Geschichte des italienischen Sozialismus.
Magris Fazit lautet, dass die Entwicklung, die wir seit den Neunzigerjahren erleben nicht von der Stärke des Kapitalismus, sondern von der Auflösung derer, „die bisher das Ziel verfolgt hatten, ihn zu bekämpfen, und das mit gewissem Erfolg“ (S. 329) geprägt wird. So staunt er auch darüber, dass die neoliberale Wende der Achtzigerjahre auf so wenig Widerstand stieß und wirft der europäischen Linken ihren Mangel an Ideen, Kampfgeist und einem gemeinsamen politischen Projekt vor.
Das Buch ist geprägt von einer berührenden Melancholie über die inhaltliche Schwäche eines großen emanzipatorischen Traums am Ende des 20. Jahrhunderts. Lucio Magri hatte 1987 ein Papier verfasst, das in die interne Krisendebatte der KPI geworfen wurde: „Eine neue kommunistische Identität“. In diesem Papier, das im Anhang veröffentlicht ist, geht er auf die Neustrukturierung der Lohnabhängigen ein, das Ende der großen Industrien als die klassischen Bastionen der kommunistischen Arbeiterbewegung, auf die Frage der Bedürfnisse, die Veränderung der Arbeitswelt, einen neuen Internationalismus und betrachtet die Ökologie aus einer kommunistischen Perspektive. Magri sieht alleine in der Dialektik zwischen Organisation und Bewegungen die Möglichkeit zur Entwicklung einer anderen Gesellschaft, die nur mit dem langen Atem eines kollektiven, militanten und intellektuellen Subjekts zu erreichen wäre. Mit der Kommunistischen Partei Italiens jedenfalls nicht mehr.
Mit seinem umfassenden Werk wollte Magri die „Todsünde des Kommunisten“ durchbrechen: die Isolation. Er legt Rechenschaft ab, ganz in der Tradition eines kommunistischen Symbols: das des Maulwurfs. In einer Zeit des eindimensionalen Denkens erinnert er an eine der vielen verlorenen Möglichkeiten und belebt eine kommunistische Tradition jenseits von Totalitarismus und Düsternis neu: „…mit zwei Groschen in der Tasche fröhlich leben, sich durch die Solidarität beschützt fühlen und nützlich sein, auch wenn man nur über geringe Möglichkeiten verfügt.“
Elfriede Müller
Lucio Magri: Der Schneider von Ulm. Eine mögliche Geschichte der KPI (Il sarto di Ulm, 2009). Aus dem Italienischen von Paola Giaculli. Argument/InkriT. Hamburg 2015. 458 Seiten. 46,00 Seiten. Foto: Wikimedia Commons, Quelle, Autor.