Geschrieben am 11. Februar 2008 von für Bücher, Litmag

Lucy Fricke: Durst ist schlimmer als Heimweh

Engelchen fliegt

Ein böser Roman über die Versuche einer jungen Frau in der Gesellschaft wieder Fuß zu fassen. Gekonnt balanciert Lucy Fricke dabei Komik und Tragik aus. Von Frank Schorneck

Der Roman beginnt im Warteraum einer Arbeitsagentur. Drei Stunden hat Judith gewartet, trotz Termin, nur um von dem Sachbearbeiter mit einem aufmunternden „Sie taugen für gar keinen Beruf“ verabschiedet zu werden. Mit lakonischem Witz schildert Lucy Fricke das Aufeinandertreffen jugendlicher Aufmüpfigkeit und verbohrter Bürokratie. Ihre Protagonistin ist aus dem gesellschaftlichen Raster gerutscht, wegen hunderter Fehlstunden von der Schule geflogen, von zu Hause ausgerissen, in eine Wohngruppe aufgenommen worden. Lucy Fricke springt in ihrem Roman durch die Zeitebenen, langsam erschließt sich dem Leser der Hintergrund von Judiths Verhalten. Nach und nach fügen sich die Puzzleteilchen zusammen zu einem bösen Gesamtbild: Alkohol und Gewalt bestimmen Judiths elterliches Umfeld ebenso wie stiefväterlicher Missbrauch. Lucy Fricke braucht nicht viele Worte, um diese Situation zu schildern. Kurze Sätze und Andeutungen reichen aus, um beim Leser eine Gänsehaut zu erzeugen – etwa wenn der Stiefvater „mein Engel“ sagt.

Der Debütroman der 1974 in Hamburg geborenen Autorin begleitet seine Protagonistin durch die Versuche, in der Gesellschaft wieder Fuß zu fassen, zwischen richtigen und falschen Freunden zu unterscheiden, mit Rachegelüsten und Aggressionen umzugehen. Dabei hält Lucy Fricke gekonnt die Balance zwischen komischen Formulierungen und tragischen Wendungen. Der Lockruf der Drogen, der Zwang, den eigenen Kopf gegen die Wand zu schlagen, bis er blutet, das Messer in den eigenen Arm zu stechen – die ganze Palette körperlicher und seelischer Schmerzen sowie ihrer Bewältigung wird durchgespielt. Es ist der Autorin dabei hoch anzurechnen, dass man nie den Eindruck gewinnt, sie arbeitete sich an einer Klischeeliste entlang, sondern dass Judith stets ein glaubwürdiger Charakter bleibt, deren Geschichte man mit Spannung und Ohnmacht verfolgt.

Frank Schorneck

Lucy Fricke: Durst ist schlimmer als Heimweh. Piper 2007. 185 Seiten. 16,90 Euro.