Geschrieben am 16. August 2004 von für Bücher, Litmag

Marisa Madieri: Wassergrün

Grenzgebiet

Eine Erinnerung an die Kindheit und das Leben in der verworrenen Grenzregion im äußersten Nordosten Italiens und Nordwestens von Kroatien. Marisa Madieri zeigt uns am Beispiel ihrer eigenen Familiengeschichte, wie fragwürdig eindeutige nationale Zuordnungen von Menschen sind, die Opfer von politischen Neuordnungen in traditionellen Grenzgebieten werden.

Auf den ersten Blick könnte man „Wassergrün“ schnell in das Genre derjenigen Bücher einordnen, die von Schriftstellerinnen über ihre Kindheit an der Schwelle des eigenen Älterwerdens geschrieben werden. Das Buch wimmelt von Verwandten ersten und zweiten Grades, von ‚Wahlverwandten‘ und Freunden, mit denen man die eigene Kindheit verbracht hat. „Echos und Erinnerungen“ vernimmt man, „die sich nach und nach zu einem Mosaik zusammenfügen.“ Aber die Kindheitserinnerungen von Marisa Madieri haben eine ganz besondere Farbe, einen eigenen Rhythmus, den Ragni Maria Gschwend sehr gut ins Deutsche übertragen hat. Sie sind lokalisiert in einer überaus spannungsvollen Region, wo sich das westliche und das östliche Europa begegnen, streiten, mischen, gegenseitig mit ihren Kulturen bereichern. Die Autorin wurde in einer Zeit und an einem Ort geboren, in denen sich noch Momente der alten Habsburger Kultur mit dem italienischen Faschismus und dem drohenden Weltkrieg vermischten. Von allem spürt man etwas und das gibt diesen Erinnerungen auch einen merkwürdig unruhigen Unterton. In der Kindheitszeit drohen früh Krieg und Flucht.

Vertrieben aus der Kindheit

Später dann, in den immer wieder in den Erinnerungsfluß eingestreuten Aufzeichnungen über ihren Alltag mit ihrem Mann (dem Schriftsteller Claudio Magris) und den beiden Söhnen, findet man frühe Ahnungen von einer schweren Erkrankung, an der Marisa Madieri dann Mitte der neunziger Jahre stirbt. Aber trotz widriger Lebensumstände, vor allem in der Zeit, die sie mit Mutter, Großmutter und Schwester in dem triestiner Sammellager für Flüchtlinge aus Jugoslawien verbringen mußte, verliert die Autorin nie eine wunderbare Lebenszuversicht. Da sich ihre Familie gegen eine jugoslawische Staatsbürgerschaft ausgesprochen hatte, wurde sie aufgefordert, Fiume zu verlassen. Leicht fällt es ihr nicht, in der ‚neuen Welt‘ Triest Fuß zu fassen, aber ihre in jeder Zeile spürbare Liebe zum Leben hilft Marisa Madieri, zunächst in den „Boxen“ des Lagers, später dann in verschiedenen triestiner Stadtwohnungen neue Hoffnungen zu finden. Selten las man so schöne, so bewegende, so ermutigende letzte Zeilen in einem vergleichbaren literarischen Erinnerungsbuch. Sie seien hier nicht verraten. Man sollte sich nur darauf freuen, wenn man mit der Lektüre des Buches beginnt. Und dann folgt auch noch ein ebenso kluges wie persönlich bewegendes Nachwort von Claudio Magris: “Wie macht man es, über einen Menschen zu sprechen, der Bücher von seltener Intensität schrieb und dabei die eigene Lebensgefährtin war, das Inbild der Liebe und der gemeinsamen Existenz, deren Verlust das Leben verstümmelt hat und die weiterhin präsent ist in den Dingen und in den Stunden?“

Carl Wilhelm Macke

Marisa Madieri: Wassergrün. Eine Kindheit in Istrien. Aus dem Italienischen von Ragni Maria Gschwend. Paul Zsolnay Verlag, Wien, 2004, 159 S.