Kompliziert
– Stoff für hunderte von Polit-Thriller, verwickelt, vielschichtig und blutig. Markus Bickels Buch „Der vergessene Nahostkonflikt“ versucht, Transparenz zu erzeugen. Anne Kuhlmeyer hat es gelesen.
Wie zu erwarten, ist das Buch keine ganz einfache Lektüre. Es ist wie in der Fotografie: Das Objekt bestimmt letztlich das Bild. So ist das Bild bzw. das Mosaik der Geschichte des Nahen und Mittleren Ostens eine höchst verzwickte und komplexe Angelegenheit, die im Kapitel „Arabiens Stunde Null“ in einem raschen Abriss an den Anfang des Buches gestellt wird. Glücklicherweise finden sich auf den ersten Seiten sowohl eine Landkarte der Region, als auch eine Auflistung der bedeutsamen Kriege und militärischen Auseinandersetzungen zwischen 1948 und 2009.
Bei aller Unübersichtlichkeit der historischen Ereignisse wird auf grundlegende Elemente des Geschehens hingewiesen: den „schon seit Ende des 19. Jahrhunderts anhaltenden Kampf um das historische Palästina“, oder den „nicht gelösten territorialen Konflikt Israels mit seinen arabischen Nachbarn“. Ebenso wie der Autor auf die fatale Rolle der europäischen Kolonialisten eingeht, skizziert er die amerikanische Interessen bzw. Vorstellungen nach der Eroberung Bagdads gemäß der „Transforming the Middle East“ (Condoleezza Rice, 2003 unter der Bush-Administration) – Pläne, nach denen eine Region von Nordafrika bis zum Iran mit 300 Mill. Einwohnern nach „westlichem Vorbild“ umgestaltet werden sollte. Wir wissen, dass sie nicht verwirklicht wurden. Genauso wenig, wie sich im Irak Massenvernichtungsmittel fanden.

Markus Bickel (Quelle: weltreporter.net)

Markus Bickel (Quelle: weltreporter.net)
Das Hizbollah-Modell
Ereignisse wie der Hariri-Mord und dessen Aufklärungsversuch oder die Strategie der von Syrien unterstützten Hizbollah werden ebenso analysiert, wie die jahrzehntelangen Verhandlungen der europäischen und amerikanischen Diplomatie und deren Scheitern. Mit einem Zitat von Nahostunterhändler Dennis Ross bringt der Autor einen Wesenszug des Konfliktes (hier nach dem Scheitern des Genfer Gipfels 2000; 2001 begann die Zweite Intifada) auf den Punkt: „Auf einmal gab es ein ganz neues Modell, mit Israel umzugehen: das Hizbollah-Modell. Macht keine Zugeständnisse. Verhandelt nicht. Setzt Gewalt ein. Und die Israelis werden ermüden.“
Trotz wechselnder Machtverhältnisse mit den jeweiligen ideologischen Begründungen (zunächst den marxistischen Arafats, später den theologischen Nasrallahs oder dem absurden Antisemitismus Jassins z.B.) speisen sich die Konflikte aus den prekären Lebensverhältnissen der Bevölkerung. Aber gerade diese Bevölkerungen tragen unter Einbeziehung der Jugend und der Frauen, ausgestattet mit ihrem zunehmendem Selbstbewusstsein die arabischen Revolutionen im Frühjahr 2011 …
Der verbale Ausfall des türkischen Ministerpräsidenten Erdogan in Davos 2009, seine Interessen und die Beziehungen Israels zur Türkei, die Ben Gurion kurz nach der Staatsgründung aufnahm, werden unter den neuen Machtverhältnissen betrachtet, ebenso die vorbehaltliche Position Israels zum Sturz Mubaraks in Ägypten.
Die auf 221 Seiten dargestellten Verflechtungen, militärischen und diplomatischen Handlungen, Motive, Verbindungen, Zwänge, Machtwechsel im nahen Osten sind trotz der Lektüre für mich unübersichtlich geblieben. Die knappe Form lässt aber gewiss einen ersten Eindruck in ein umfassendes Thema zu und weckt das Interesse an einer weiteren Auseinandersetzung damit. Überdeutlich wird trotz allem ein Wesenszug der Auseinandersetzungen in Nordafrika und auf der arabischen Halbinsel: Eine sichere Größe war und ist die Zuverlässigkeit der Instabilität.
Das Buch endet mit dem Satz: „Der Arabische Frühling hat gerade erst begonnen.“ Bleibt die Hoffnung, dass er sich in einem fruchtbaren Sommer befriedet.
Markus Bickel: Der vergessene Nahostkonflikt. Sachbuch. Berlin: Edition Weltkiosk London im C.W. Leske Verlag 2011. 221 Seiten. 18,90 Euro.
Verlagsinformationen zum Buch.