Bei Zapateks unterm Sofa
Das Zimmermädchen ist die konsequente Weiterentwicklung von Orths’ Kurzgeschichten, in denen er immer wieder die Grenzen der Realität zum Surrealen auslotet. Von Frank Schorneck
Er ist einer der fleißigsten Autoren seiner Generation der um die 40-Jährigen. Seit seinem Erzählungsdebüt Wer geht wo hinterm Sarg? aus dem Jahr 2001 ist von Markus Orths nun schon das sechste Buch erschienen, sein bereits vierter Roman – wobei diese Klassifizierung arg gewagt ist, denn das Schriftbild von Das Zimmermädchen könnte auch als Großdruck vermarktet werden. Wenn man außerdem die reichliche Luft zwischen den Zeilen und am Seitenrand ablässt, verbleibt eine höchstens 70-seitige Novelle – aber was für eine!
Wer das diesjährige Bachmann-Lesen verfolgt hat, wird den Textauszug, mit dem sich Markus Orths den Telekom-Austria-Preis gesichert hat, nicht so schnell vergessen: Ein Zimmermädchen, das nach Feierabend unter die Hotelbetten kriecht und so Nacht für Nacht am Leben der Hotelgäste teilnimmt. Dieses Bild – eine seltsame Mischung aus Voyeurismus und Anspannung, aus beklemmender Enge und gleichzeitiger Geborgenheit unter dem Lattenrost – lässt den Leser nicht so schnell los.
Die nun als Buch vorliegende Erzählung setzt zeitlich ein gutes Stück vor dem Klagenfurter Textauszug ein: Linda Maria Zapatek, genannt Lynn, lässt ein erdrückendes Gebäude mit Glasfront hinter sich, in dem sie die vergangenen sechs Monate verbracht hat. Wir erfahren nicht den konkreten Grund für ihre Therapie, aber sie ist auch nach der Entlassung weiterhin in Behandlung. Ihre Beziehung zur Mutter lässt sich schon aus dem ersten Telefonat heraus als schwierig charakterisieren. Lynn findet recht schnell eine Anstellung als Zimmermädchen in einem Hotel. Sie ist die Fleißigste und Gründlichste, kein Staubkorn, kein Wasserfleck entgeht ihrem kritischen Auge – doch wer aufmerksam liest, findet in einem Nebensatz das Wort „Konfrontationstherapie“, mit dem Lynns Therapeut den Job charakterisiert. Lynn hat einen krankhaft ausgeprägten Sauberkeitsfimmel und ihre Arbeit im Hotel gibt ihr die Gelegenheit, diesen exzessiv auszuleben. Sie sammelt Überstunden an, denkt gar nicht an Urlaub, sie „verschwindet hinter den Dingen des Hotels, fällt nicht mehr auf, es ist, als gehöre sie unsichtbar dazu, eine Inventar, das sich ab und zu kaum wahrnehmbar bewegt…“ Die Dinge in den Zimmern, die persönlichen Gegenstände der Hotelgäste, üben einen magischen Reiz auf sie aus. Nicht, dass sie etwas stehlen wollte, doch sie ergeht sich in Phantasien über die Menschen hinter den Gegenständen, die sie in die Hand nimmt, den Kleidungsstücken, die sie sich überwirft. Eines Tages wird sie von der Rückkehr eines Gastes überrascht. Weil ihr der Ausgang versperrt ist, versteckt sie sich unter dem Bett. Doch als der Gast im Bad ist und sie die Chance hätte, unbemerkt zu verschwinden, bleibt Lynn unter dem Bett, verbringt die Nacht nur durch wenige Zentimeter Matratze und Lattenrost von dem Fremden getrennt. Sie lauscht den Geräuschen des Fernsehers, den Atemzügen des Mannes. Aus dieser einen Nacht entwickelt Lynn eine neue Obsession: Jeden Dienstag verbringt sie fortan unter einem Hotelbett, belauscht Männer, Frauen und Paare, fühlt sich wohl in dieser Nähe zur Banalität alltäglichen Lebens, das sie selbst zu führen nicht in der Lage ist. Bis sie eines Tages Zeugin des Besuches einer Prostituierten wird, sich in der sexuell aufgeladenen Atmosphäre unter dem Bett selbst befriedigt. Lynn nimmt Kontakt zu Chiara, dieser Prostituierten, auf, zu den Dienstagen unter fremden Betten kommt der Samstag, an dem sie Chiara für Sex bezahlt und auf Liebe hofft.
Markus Orths ist auf wenigen Seiten das ungeheuer komplexe Psychogramm einer jungen Frau gelungen, die mühsam auf dem schmalen Grat zwischen Normalität und Wahn balanciert. Auch wenn er durch den anfänglichen Hinweis auf einen Anstaltsaufenthalt der Frau unter dem Bett ein wenig ihres Geheimnisses nimmt, bleibt die Deutung ihres Krankheitsbildes rein spekulativ und dem Leser überlassen. Orths beherrscht die Klaviatur der Stimmungen von erotisch bis beklemmend perfekt. Dabei bleibt die Entwicklung der Geschichte bis zum Ende hin stets unvorhersehbar und überraschend. Das Zimmermädchen ist die konsequente Weiterentwicklung von Orths’ Kurzgeschichten, in denen er immer wieder die Grenzen der Realität zum Surrealen auslotet. Der Verlag wirbt damit, dass man nach der Lektüre in jedem Hotelzimmer zuerst unters Bett schauen wird – man wird aber auch Staub und Flecken mit ganz anderen Augen sehen…
Frank Schorneck
Markus Orths: Das Zimmermädchen. Schöffling & Co. 2008. 138 Seiten. 16,90 Euro.