Strahlende Verbrechen
Ende April 1986 versetzte der atomare Super-GAU in Tschernobyl die ganze Welt in Panik. Knapp zwanzig Jahre später herrscht in den Medien eine ähnliche Totenstille wie in der 30 Kilometer großen Sperrzone rund um den Atomreaktor. Nun lässt der Autor des Bestsellers „Gorki Park“ seinen Chefinspektor Arkadi Renko auf dem kontaminierten Gelände ermitteln. Was er dort entdeckt, ist erschütternd und ernüchternd zugleich.
Dass neureiche Russen Selbstmord begehen, ist so wahrscheinlich wie eine schnelle Entseuchung des radioaktiv verstrahlten Tschernobyl. Zu dieser Einsicht gelangt auch der Moskauer Chefinspektor Arkadi Renko, der am plötzlichen Freitod des erfolgreichen Unternehmers Iwanow zu Recht starke Zweifel anmeldet. Denn welcher normale Mensch stürzt sich schon mit einem Salzstreuer in der Hand aus dem Fenster eines Hochhauses. Diesem merkwürdigen Detail misst der zuständige Staatsanwalt Surin aus persönlichen Karriereinteressen keine Bedeutung bei und will den Fall schnell zu den Akten legen.
Dabei kommt dem Rechtspfleger der Mord an Iwanows Geschäftspartner Timofejew in Tschernobyl äußerst gelegen. Kann er doch nun seinen starrsinnigen und nicht korrumpierbaren Kriminalisten Renko ins ukrainische Exil verbannen. Aber genau dort „im trostlosesten Winkel des Planeten“ gelingt es ihm nach langwierigen Verhören mit den dort verbliebenen Einwohnern, Forschern und Milizionären und bei halsbrecherischen Verfolgungsjagden die Tatverdächtigen ausfindig zu machen. Allerdings bleibt das Tatmotiv bis zum Schluss im Dunkeln, was ebenso zur Spannung beiträgt wie die beim Leser geschürte Erwartung, dass nur in der Reaktorkatastrophe die Antworten auf die ungelösten Fragen zu finden sind.
Trotz, Verzweiflung und Zynismus
Und der Leser wird vom einzig wahren Russland-Kenner unter den amerikanischen Kriminalschriftstellern nicht enttäuscht. Weder was die Plausibilität des Verbrechens noch die Glaubwürdigkeit seiner Romanfiguren angeht. Seine Protagonisten sind so wirklichkeitsnah und kontrastreich gezeichnet wie die Landschaft, die von geplünderten Wohnungen geprägt und mutierten Tierarten bevölkert wird. Smith scheint wirklich auf den Pfaden seiner Figuren gewandelt zu sein und die Berichte der Strahlenopfer wie der Umweltschutzorganisationen studiert zu haben. Ohne jede Sensationslust berichtet er von den Überlebenden, die ihrem todbringenden Schicksal mit Trotz, Verzweifelung oder Zynismus begegnen.
„Wenn du wissen willst, wie die Menschen sich verhalten werden, wenn die Welt untergeht, hier konnte man sich ein Bild davon machen“, erklärt eine selbst vom Strahlentod bedrohte Ärztin Renko. So klar und illusionslos sind fast alle Feststellungen und Dialoge in einem Roman, der von der Schuld der verantwortlichen Ingenieure, Wissenschaftler und Politiker an der Reaktorkatastrophe erzählerisch ebenso überzeugend getragen wird wie von der plastischen Schilderung der nie vernarbenden Wunden bei Mensch und Natur. Martin Cruz Smith gibt mit seinem gut recherchierten Kriminalroman Tschernobyl und seinen Opfern ein Gesicht. Ein Buch, das zum Mitfühlen auffordert und zum Nachdenken anregt.
Jörg von Bilavsky
Martin Cruz Smith: Treue Genossen. Ein Arkadi-Renko-Roman. Aus dem Amerikanischen von Reiner Pfleiderer. C. Bertelsmann Verlag. München. 2005. Gebunden, 384 S., 19,90 Euro. ISBN 3-570-00470-8.