Geschrieben am 24. März 2012 von für Bücher, Crimemag

Martin von Arndt: Oktoberplatz

Tantchen & Tantchen

„Kriminalroman“ steht auf vielen Romanen drauf, die keine sind. Und auf Romanen, die Kriminalromane sind, steht es oft nicht drauf. Bei Martin von Arndts „Oktoberplatz“ sollte es ganz groß draufstehen, findet Anne Kuhlmeyer.

Wasil, Wasja, erblickt das Stahlblau des weißrussischen Himmels als Licht seiner Welt, in einer Familie, deren Abstammung und Konstellation verwirrender nicht sein könnte. Der ungarische Großvater, 1908 geboren, Trinker, Schürzenjäger, beseelt von der Revolution, schlägt sich in die Sowjetunion durch und begründet mit dem 15-jährigen Nachbarsmädchen die Nachkommenschaft. Wasils Vater kommt Ende der Fünfziger zur Welt, seine „Tantchen“, wie Wasja sie nennt, sind etwa gleichaltrig bis auf das jüngste. Kurz nach dessen Geburt stirbt der Großvater am Suff und die nicht mehr junge Großmutter ist angewiesen auf die Hilfe der Verwandtschaft. Die finanziellen Mittel entstammen mehrheitlich illegalen Quellen. Es wird gehandelt, getauscht, gedealt, organisiert und besorgt, wie es in Mangelgesellschaften üblich ist. Dankenswerterweise kommt eines der Tantchen auf die Idee, ein Genogramm zu zeichnen, weil es nicht mehr durchsteigt durch die Verhältnisse.

Die Rollen sind klar verteilt. Die Männer trinken, die Frauen ertragen sie, umgeben von Katastrophen wie Tschernobyl und dem Zerbrechen der Sowjetunion zugunsten einer zweifelhaften Freiheit, von deren Existenz sie, verstrickt im eigenen Existenzkampf, nichts oder nur wenig erfahren. Sie ereignen sich wie Naturgewalten und wirken sich aus. Im Multiorganversagen eines kleinen Mädchens zum Beispiel. Oder in dem Umstand, dass der einzige Gemischtwarenladen am Ort schließt.

Sex’n drugs’n history

So kompliziert die verwandtschaftlichen Beziehungen sind, so geschickt nutzt sie der Autor, um ein Stück europäischer Geschichte aus dem Blickwinkel des Einzelnen zu präsentieren, ohne Aufklärung, ohne Didaxe. Und das Hineingeworfensein in Umstände und Verhältnisse, unter denen ihm nichts übrig bleibt, als sich um sein Überleben zu kümmern und ihnen so gut es geht die kleinen Glückseligkeiten in Form von Alkohol, Drogen, Sex und Lernen abzutrotzen. Alle sind fremd. Es gibt keine Heimat, weil das Land immer neu verteilt und begrenzt und nie recht befriedet, niemandem eine bieten kann: „Für die Hiesigen waren wir keine Hiesigen, wir waren die Familie des roten Ungarn. Aber die Hiesigen waren ja auch keine Hiesigen, selbst wenn das der einzige Name war, den sie sich selbst gaben: Die Hiesigen. Gefragt, welche Sprache sie sprächen: Die Hiesige. Was für ein Land das wäre: Das Hiesige.“

Martin von Arndt gelingen bezaubernd atmosphärische, wunderbar poetische Bilder – der „Polentümpel“ mit Grotten, Gängen und Geheimnissen am Rande ihrer Welt, eingebettet in fette, träge Sommertage, dem Geruch nach Erde, Gras und Brackwasser. Wasja ersäuft beinahe darin. Tragödien werden mit fatalistischer Beiläufigkeit und bitterer Komik erzählt. Schwer nachvollziehbar deshalb und ärgerlich ein Zitat von Elke Heidenreich auf dem Umschlag: „Martin von Arndt hat den Schalk im Nacken: Ein sehr unterhaltsamer, ein sehr humorvoller Autor!“ Nee, also, beim besten Willen, das trifft’s so gar nicht. Lächerlich unangemessen für einen Roman, in dem Geschichte und Gewalt gekonnt und brillant mit Ironie und Komik verhandelt werden. Meinethalben hätte ruhig Kriminalroman draufstehen dürfen.

Wasja jedenfalls bastelt schon eingangs am unnatürlichen Tod seines erpresserischen Tantchens Lesja, mit dem er zwangsweise eine inzestuöse Beziehung pflegt, um die zum geliebten Tantchen Tanja zu realisieren. Was alles und wen er dafür opfern muss …?

So großartig wie der ganze Roman, so furios der Schluss!

Anne Kuhlmeyer

Martin von Arndt: Oktoberplatz. Roman. Tübingen: Klöpfer & Meyer 2012. 273 Seiten. 19,90 Euro. Verlagsinformationen zum Buch. Webseite des Autors. Zu Anne Kuhlmeyers Homepage.