Holzbein, sei wachsam
Grzegorczyk spielt geschickt mit den Erwartungen des Lesers, dreht erst sehr zaghaft am Schräubchen der Emotionalität, um dem Leser schließlich einen desto heftigeren Tritt zu versetzen.
Als „subtiler Krankenhaus-Thriller“ wird der Erstling des 1965 geborenen Matias Grzegorczyk beworben, ein Etikett, mit dem der Hamburger Autor eigentlich kaum einverstanden sein kann. Sicher, ein Großteil der Handlung spielt in einer Klinik und es kommt durchaus zu kriminellen Handlungen und bedrohlichen Situationen, doch letzten Endes ist der Psycho-Krieg, den sich zwei Bettnachbarn hier liefern, nur ein Teilaspekt einer sehr komplexen Geschichte. Grzegorczyk selbst bezeichnet Wenn du schläfst als einen Entwicklungsroman, doch mit diesem Etikett lässt sich vermutlich nicht so gut werben.
Erzählt wird die Geschichte von Alex, einem jungen Mann, der in vielerlei Hinsicht neben der Spur steht, die Kontrolle über sein Leben verloren hat. Ziemlich mutig geht der Autor vor, denn Alex ist (zumindest zu Beginn des Romans) eine extrem unsympathische Hauptfigur, wie sie nur selten als Ich-Erzähler zu Wort kommen darf. Alex sitzt in einem Zug, unter der Hose blutet sein linkes Schienbein und wir erfahren portionsweise, dass es zum Streit mit einer Frau gekommen ist, in dessen Verlauf ein Tisch mit Stahlkante verhängnisvoll kippt: „Andere tragen bei einer Stahlkante eine Platzwunde davon. Aber die Haut über meinem Schienbein schält sich runter wie die Schale einer Banane, bis das Weiß der Banane freiliegt, das Schienbeinweiß.“ Schon seit vielen Jahren ist die Haut an dieser Stelle überempfindlich, zahlreiche Klinikaufenthalte haben traumatische Erinnerungen hinterlassen. Deshalb hat Alex auch keinen Krankenwagen gerufen, sondern ist zum Bahnhof gelaufen und hat sich in einen Zug gesetzt. Doch auf der Fahrt verliert er das Bewusstsein.
Alex erwacht im Krankenbett einer Spezialklinik. Sein Bettnachbar Clemens hat kein Gesicht. Die Tatsache, dass er über keinerlei Mimik verfügt, macht Clemens undurchschaubar und lässt ihn bedrohlich erscheinen. Zunächst sieht es so aus, als sei Alex in seinem Misstrauen und Hass gegen die ganze Welt überempfindlich, doch nach und nach (verschiedene Transplantationen, die Wartezeit, ob die neuen Hautlappen anwachsen oder abgestoßen werden, ziehen sich über einen längeren Zeitraum) häufen sich die Anzeichen, dass Clemens tatsächlich diffus Böses im Schilde führt. Das reicht von üblen Scherzen auf Kosten der Krankenschwestern bis hin zum „Unfall“ eines Rollstuhlfahrers. Alex beginnt, nachts auf die Atemgeräusche seines Bettnachbarn zu achten.
Bindungsunfähiges Arschloch mit Geldproblemen
Den einzigen Besuch, den Alex bekommt, ist von Paul, dem Mann, der ihm im Zug gegenüber gesessen und der seine Krankenhauseinweisung begleitet hat. Wirkliche Freunde scheint Alex nicht zu haben. In Rückblicken erweist sich Alex als ein bindungsunfähiges Arschloch mit Geldproblemen (vor den Männern in einem weißen Mercedes scheint er eine sehr berechtigte Angst zu haben), seine Beziehungen zu Frauen lassen ihn durchweg als Ekel dastehen, dem Krankenhauspersonal begegnet er mit Zynismus und Ablehnung. Zu Paul hingegen scheint Alex ein Vertrauensverhältnis aufzubauen. Die beiden spielen regelmäßig Schach und vieles deutet auf eine Freundschaft, fast eine Vater-Sohn-Beziehung hin. Paul stellt Alex in Aussicht, beim Abtragen seiner Schulden zu helfen, wenn er seine Geschichte aufschreibt.
Der Brief, der aus dieser Verabredung hervorgeht, ist eine der eindrucksvollsten Sequenzen des Romans. Er erklärt, warum Alex` Schienbein so ruiniert ist, aber auch die Narben in seiner Seele. Ein kurz darauf folgendes Geständnis von Paul macht das Verhältnis noch komplizierter.
Grzegorczyk spielt geschickt mit den Erwartungen des Lesers, dreht sehr zaghaft am Schräubchen der Emotionalität, um dem Leser schließlich einen heftigen Tritt zu versetzen. Es geht in seinem Roman um nicht weniger als um Schuld und Verantwortung, um Liebe und Verlust und darum, nach herben Rückschlägen wieder auf die Füße zu kommen. Verpackt ist das ganze in eine Prosa, die bösem schwarzem Humor – und dem Spiel mit dem Ekel – viel Raum bietet und untergründige Spannung erzeugt. Von der Lektüre dieses Romans im Krankenbett ist allerdings dringend abzuraten.
Frank Schorneck
Matias Grzegorczyk: Wenn du schläfst. Tisch7 2006. 235 Seiten. 19,50 Euro.