Autos, Autos, Autos …
– „Objekte im Rückspiegel sind oft näher, als man denkt“ – und ein Buch über Autos, das diesen Titel führt, ist kein bisschen so, wie man denkt. Oder dann doch: Denn schon Roland Barthes bestand in seiner Mutter aller kultursemiotischen Analysen mit Witz und in lesbarer Prosa darauf, gegen das sich überall manifestierende „Selbstverständliche“ zu opponieren. Nicht, dass Matthias Penzel gleichmal opponieren möchte – das kriegen wir später, auch da frei nach Barthes, nach der „Feinanalyse“. Aber eine Kulturgeschichte des Autos derart unsystematisch zu schreiben, um das Systematische und das Systemische sichtbar zu machen, das ist alles andere als „selbstverständlich“. Witz und lesbare Prosa gehören bei Penzel dazu wie absolute Sachkompetenz und der weite, souveräne Blick aufs Große und Ganze. Von Thomas Wörtche
Natürlich kann man das Buch nicht nacherzählen. Mein weiß ja, grob gesehen, wie’s lief, seit Leonardo da Vinci, Carl Benz (an dessen Denkmal auf der Mannheimer Augusta-Anlage ich mein frühes Leben lang täglich vorbeigetrabt bin) und Gottlieb Daimlers Zeiten. Bis heute, bis SUV und Hybrid-Car. Wer so etwas ganz genau nachlesen will, der kann sich mit Gewinn an Kurt Mösers kapitales Werk: „Geschichte des Autos“ (mehr hier) von 2002 halten.
Wer allerdings das Automobil in allen möglichen und unmöglichen Kontexten, Vernetzungen, Assoziationen, popkulturellen Bezügen, politischen, sozialen und ästhetischen Parametern sehen möchte, also in einem Kaleidoskop der Perspektiven, Theorien und vor allem verschiedenen Praxen (vom Utilitarismus bis zum Fetischismus, sozusagen), wird sich an Penzels strukturiertem Mosaik festlesen bis zur sozialen Unverträglichkeit für Dritte. Wie kommen die Briten zum Linksverkehr? Wie genau sieht es mit peak oil aus? Was ist überhaupt peak oil? Was ist ein chelsea tractor? Wer fuhr zuerst einen zivilen Humvee, später bekannter als Hummer? Welche wirklich wichtigen Auto-Crash-Filme gibt es, und was hat sich Quentin-Tarantino bei „Death Proof“ möglicherweise gedacht und was eher nicht?
Kein Sammelsurium, sondern klug präsentierte Kulturgeschichte
Natürlich ist Penzels Buch aber auch kein Sammelsurium von obskuren Details rund ums Auto, denn es gibt genau so wichtige Kapitel zur Technikgeschichte, zur politischen Macht von Autobauern und Ölkonzernen, zu Geschichte und Ästhetik von Design, Berge von Sozialgeschichte (wer kann und will sich wann wo warum einen bestimmten Typ von Auto leisten?) und großer Politik. Das Schöne aber: All diese Vektoren, die auf das Auto (genauer: den PKW, meistens; weniger den LKW, Panzer oder andere Nutzfahrzeuge; Boliden allerdings schon) einwirken oder vom Auto auf andere Segmente der Realität ausgehen, sind hier nicht hierarchisch geordnet. Ein Masterplan der Auto-Evolution, ein generalisierbares, dominantes Haupt-Narrativ, also der (Fort-)Bildungsroman als Auto-Biografie, findet nicht statt. Penzels Multiperspektivismus hat etwas sehr tröstlich Kontingentes, Unautoritäres, aber dennoch angenehm Vollständiges: Es ist (fast) alles gesagt, basta, finito, el fin.
Das Buch endet logischerweise skeptisch: „Das Auto als Medium, als Wunschmaschine und Emotions-Turbo hat ausgedient. (…) Es muss anders weitergehen.“ Diese Einsicht orchestriert Penzel, der selbst einmal Chefredakteur eines Formel-1-Magazins war, mit vielen präzisen Einsichten ins Wesen und Treiben der menschlichen Technik namens „Kultur“. HipHop war das letzte innovative Ding in der Popmusik, Anti-Retro hat schon wieder Retro-Aspekte und alles hat sich auf den post-postmodernen Zitations- und Verweismodus kapriziert – zumindest in den Gesellschaften, in denen es NICHT ums schlichte Überleben geht.
Folgerichtig wird auch noch so viel kulturelle Selbstreflexion und Metaisierung und Metametaisieurng dem Auto nicht mehr zu dem zentralen Status verhelfen, den es einmal hatte. Die Luft ist raus. Panta rhei (nur das Erdöl nicht nicht mehr allzu lange) – und insofern hat der Begriff „Kulturgeschichte“ schon seinen Sinn, und Penzels Untertitel „Die Auto-Biografie“ erst recht. Denn Biografien von Rang kommen erst, wenn alles schon vorbei ist.
Anyway, ich wüsste kein unterhaltsameres, klügeres und witziger komponiertes Buch zum Thema.
Thomas Wörtche
Matthias Penzel: Objekte im Rückspiegel sind oft näher, als man denkt. Die Auto-Biografie. Freiburg: Orange Press 2010. 287 Seiten. 25,00 Euro.
Mehr zum Buch finden Sie hier, reinlesen können Sie hier.
Matthias Penzel ist regelmäßiger Mitarbeiter von CULTurMAG