Ultimativer Fieslingstest mit egomanischem Macho-Profiler
– Dem schwedischen Autoren-Duo Hjorth/Rosenfeldt gelang mit „Der Mann, der kein Mörder war“ ein fulminanter Einstand. Von Peter Münder.
Ausgerechnet in einem Wald bei Västerås, dem hundert Kilometer westlich von Stockholm gelegenen Wohnort (über tausend Jahre alt, 100.000 Einwohner) des 80-jährigen Lyrikers und Nobelpreisträgers Tomas Tranströmer, wird der Leichnam des 16-jährigen Schülers Roger aufgefunden. Er ist mit zweiundzwanzig Messerstichen bestialisch verstümmelt worden, sein Herz herausgeschnitten. Wer einigermaßen mit den Romanen von Jo Nesbø, Arne Dahl, Åke Edwardson, Henning Mankell, Stieg Larsson, Håkan Nesser u. a.vertraut ist, hält den Verfasser eines so blutrünstigen Romananfangs sicher für einen „Nordic Noir“-Trittbrettfahrer, der unterwegs ist auf dem anvisierten Marsch durch die Bestseller-Listen.
Offenbar sollen die Freunde skandinavischer Krimis hier bedient werden mit blutrünstigen Exzessen eines Serienmörders, die noch drastischere Effekte nebst paranoiden Figuren und fetzigen Dialogen suggerieren. Da wir es bei den beiden schwedischen Autoren Michael Hjorth , 48, und Hans Rosenfeldt, 47, mit einem erfahrenen Drehbuch- und Film-Produktions-Team zu tun haben, das etliche Skripte für Mankell-TV-Verfilmungen geschrieben und mit dem bekannten Wallander-Darsteller Rolf Lassgård realisiert hat, ist diese Vermutung wohl nicht ganz abwegig.
Eigene Wege
Doch Hjorth/Rosenfeldt gehen in ihrem ersten Krimi ihre eigenen Wege: Ohne hektische Ortswechsel blicken sie hinter die penibel geschrubbten Fassaden der bullerbüartigen Biedermeier-Welt von Västerås, sondieren die psychischen Untiefen von vermeintlichen Vorzeige-Pädagogen, blicken in den Alltag eines gemobbten Schülers mit Unterschicht-Sozialisiation, der am gutbürgerlichen privaten Gymnasium um Anerkennung kämpft, um mit angesagten Klamotten und Schicki-Accessoires mithalten zu können in seiner Peer Group und trotzdem nur kümmerliche 32 Facebook-„Freunde“ vorzeigen kann. In den Plot dieses klassischen whodunnit haben sie nicht nur reichlich Spannungsmomente und brisante Dialoge, sondern auch komische Effekte eingebaut, die allerdings streckenweise in eher müde running gags ausarten.
Der verschlafene Polizist Haraldson, ein HB-Männchen, dem einfach alles misslingt, hatte die Vermisstenanzeige von Rogers Mutter einfach ignoriert und kam viel zu spät in die Puschen – ein klarer Fall von Überforderung provinzieller Ressourcen. Daher übernahm die Stockholmer Reichspolizei die Ermittlungen. Aber weder mit einem Depri-Derrick vom Typ Wallander noch mit einem heroischen Super-Kommissar, sondern mit einem eingespielten Team um den souverän-rationalistischen Kommissar Torkel, die beiden ebenso ehrgeizigen wie perfektionistischen Polizistinnen Ursula und Vanja sowie dem jungen Computer-Nerd Billy. Das Team eruiert im elitären Schnösel-Gymnasium des verstorbenen Roger und läuft beim pedantischen Rektor, der sich als Moralapostel und Imagepfleger einer reibungslos funktionierenden Lernmaschine geriert, ins Leere.
Als diabolus ex machina tritt plötzlich der Polizeipsychologe Sebastian Bergman in Erscheinung. Der eloquente Egomane ist der Widerling vom Dienst: Ein begabter Hyper-Macho, der von seinem unfehlbaren Genie und der unwiderstehlichen Wirkung auf alle Frauen dieser Welt überzeugt ist. Er hatte früher schon mit Kommissar Torkel zusammengearbeitet, war aber nach dem Unfall-Tod seiner Frau und seiner Tochter in einen depressiven Sog geraten. Die letzten Jahre hatte er eher als verkrachte Existenz denn als hochprofessioneller Profiler verbracht. Bergman bettelt um eine zweite Chance und wird tatsächlich als Berater in das Team aufgenommen. Mit diesem „Fiesling-Faktor“ Bergman in ihrer Mitte wird das Ermittler-Team nun mit enormen Irritationen und Turbulenzen konfrontiert, was die Zusammenarbeit mit dem notorischen Schürzenjäger zum zermürbenden Härtetest werden lässt.
Für den Leser ergeben sich daraus jedoch die spannendsten Szenen: Bergman gegen den Rest der Welt, das ist ein anregendes Szenario, denn der hochbegabte Psychologe provoziert zwar immer wieder sein gesamtes Umfeld, aber hinter seinen wütenden Protesten gegen die ach so heile, aber völlig verlogene Butzenscheibenidylle spürt man immer noch seine gestörte Beziehung zum längst verstorbenen autoritären Vater, der übrigens an der Palmövska-Schnösel-Schule , an der sie ermitteln, selbst Rektor war. Bergman will diese bildungsbürgerliche traumatische Erblast endlich loswerden – „mittelstandskonventionell“ ist für ihn das übelste denkbare Schimpfwort – wird aber wieder mit seiner Vergangenheit konfrontiert. Als er nach dem Tod seiner Mutter das Elternhaus verkaufen will, findet er im verstaubten Gerümpel alte Briefe einer früheren Geliebten, die offenbar ein Kind von ihm hat: Soll er sich nun auf die Suche nach diesem Kind machen? Was wäre damit gewonnen? Dieser egomanische, promiskuitive Provokateur ist auch ein verunsicherter Suchender – zweifellos die schillerndste, abstoßendste und faszinierendste Romanfigur aus dem kühlen Norden, seit Stieg Larsson sein unwiderstehliches Ermittler-Duo „Kalle“ Blomquist und die punkig-autistische Hacker-Queen Lisbeth Salander erfand. Selbst Bergmans Mutter hatte einmal festgestellt: „Den meisten Menschen geht es ohne Sebastian in ihrem Leben besser.“
„Wir wollten unbedingt eine Figur entwickeln, die über fast keine positiven Charaktereigenschaften verfügt“, erklären die beiden Autoren im Stockholmer Büro der von Mikke Hjorth gegründeten Produktionsfirma „Tre Vänner“ – „für uns war das zuerst auch ein Test: Wir wollten nämlich sehen, wie weit man gehen kann, wenn man eine fiese Figur fabriziert nach dem Motto ‚Sie werden es lieben, ihn zu hassen!‘.“ Bergman fällt völlig aus dem üblichen Raster eines Ermittlers: Er liebt zwar den Nervenkitzel extremer Herausforderungen und die Auseinandersetzung mit gefährlichen Kriminellen, aber es ist für ihn eher eine Art gefährliches Schachspiel: Er versetzt sich in die Lage des Täters, versucht dessen nächste Aktionen zu antizipieren und genießt es, wenn diese Schachzüge des Gegners besonders raffiniert und ausgefallen sind. Hat er das Rätsel dann gelöst und die Jagd auf den Täter gewonnen, interessiert ihn die Diskussion über Schuld und Sühne, das angemessene Strafmaß oder die ethisch-moralischen Aspekte schuldmindernder biografischer Umstände überhaupt nicht mehr.
Auch seine sexuellen Abenteuer sind so gestrickt: Für ihn geht es um Eroberungen – je mühsamer sie sich gestaltet, je aufwendiger er sein Rollenspiel betreiben muss, desto mehr genießt er dies. Läuft so ein One-Night-Stand viel zu reibungslos ab, ist die Flachgelegte vielleicht noch anhänglich oder dankbar, dann ist er eher angewidert. Seine Beziehungsunfähigkeit beleuchtet auch eine im Buch beschriebene generelle Dysfunktionalität: Es gibt keine intakten Beziehungen, keine glückliche Familie, keine gut funktionierende Ehe. „Ja, das haben wir schließlich auch gemerkt, als wir den Roman fertig hatten; geplant haben wir das aber nicht. Wir wollten auch kein Buch zu einem bestimmten Thema schreiben wie etwa Mankell über die Machenschaften organisierter Kriminalität bei Menschenhandel oder Organschmuggel. Wir haben die Handlung um den Fall des toten gemobbten Schülers weiterentwickelt, die Schule mit dem Rektor und seinen Kontakten aus einem militanten Schützenverein zur Drehscheibe dubioser Aktivitäten ausgebaut, aber es ging uns nicht um irgendein Netz von Terroristen oder um irgendwelche Weltverschwörungs-Aktivisten, auch wenn es um Verlauf des Coverup weitere drei Tote gibt.“

Wallander-Darsteller Rolf Lassgård
Hype?

Wallander-Darsteller Rolf Lassgård
Die beiden Autoren hatten ursprünglich eine Trilogie um diesen in pathologische Grenzbereiche driftenden Psychologen geplant, inzwischen haben sie bereits den zweiten Band (noch nicht ins Deutsche übersetzt) veröffentlicht und planen eine insgesamt fünf Romane umfassende Bergman-Saga. Nach den begeisterten Kritiken im skandinavischen Raum („sensationell gut“ urteilte „Hallands Nyheter“) ist das Interesse am „Mann, der kein Mörder war“ enorm: Es gibt bereits siebzehn Übersetzungen und es kommen immer neue hinzu. Die bienenfleißigen Autoren arbeiten bereits am dritten Roman und produzieren nebenher noch diverse TV-Serien, die oft auf ihren eigenen Ideen basieren. Und demnächst kann man die ZDF-Koproduktion mit SVT auch bei uns sehen – mit Rolf Lassgård in der Hauptrolle, ein Hörbuch erscheint im Januar 2012 im Audiobuch Verlag.
Ist so eine Zusammenarbeit an einem Krimi nicht ziemlich nervtötend, weil jedes Detail vom Partner abgesegnet werden muss und daraus vielleicht lange Diskussionen werden? Bei den sympathisch-lockeren Typen Mikke Hjorth und Hans Rosenfeldt mutet dieser Arbeitsprozess eher so an, als würden sie zusammen „Strategy“ spielen und nebenher ihre Storys in die Tasten hauen. Am Anfang steht zwar ein fertiges Konzept mit dem in groben Zügen ausgearbeiteten Plot und den Hauptfiguren – alles auf einem riesigen Whiteboard festgehalten. Aber das Duo geht das alles locker an, sie stehen im permanenten Kontakt, besprechen ihre Einfälle und schicken sich ihre fabrizierten Kapitel per Mail zu. Die werden dann weiterentwickelt – so entstand in einem Jahr dieser erste 600-Seiten-Krimi.
Mikke Hjorth hatte zwar die Fiesling-Figur Bergman entwickelt, „aber sein Baby habe ich mit meinen brillanten Einfällen zu einer so beeindruckenden Vitalität und Genialität hochgepäppelt, dass es inzwischen zu meinem eigenen geworden ist“, meint Hans Rosenfeldt ironisch und beide lachen. Sehen sich die beiden in irgendeiner Tradition, fühlen sie sich der düsteren Nordic-Noir-Schule verpflichtet oder sympathisieren sie mit dem sozialkritischen Scharfblick des Krimi-Urgesteins Sjöwall/Wahlöö? „Natürlich wollen wir auch wie Chandler, Hammett oder Sjöwall/Wahlöö die Risse in der gutbürgerlichen Fassade zeigen und auf die Schwachstellen dieser Wohlfahrtsgesellschaft hinweisen“, erklären sie. „Aber wir haben keine ideologischen Scheuklappen und machen einfach unser eigenes Ding.“ Fazit: cooles Duo, spannendes Buch, vor allem aber: Ein einmaliges Ekel als Anti-Held, ein Kotzbrocken-Assi, der aber irgendwie einfach unwiderstehlich ist! Was für ein verrückter, faszinierender Mix.
Peter Münder
Michael Hjorth & Hans Rosenfeldt: Der Mann, der kein Mörder war (Det Fördolda, 2010). Roman. Deutsch von Ursel Allenstein. Reinbek bei Hamburg 2011: Rowohlt Polaris. 588 Seiten. 14, 95 Euro. Verlagsinformationen zum Buch.