Geschrieben am 13. März 2004 von für Bücher, Litmag

Michael Kimball: Eine Familie verschwindet

Tragisches Roadmovie

Was für eine großartige Geschichte! Ein kleiner Junge erzählt, wie seine Familie nach dem Tod des Babys das geordnete Kleinstadtleben hinter sich lässt und mit dem Wohnmobil eine Odyssee durch die USA antritt. Sie brechen dabei sämtliche Brücken hinter sich ab; die Möbel, das Haus werden zu Geld gemacht, die Wiege des kleinen Bruders und andere Babysachen reichen für die erste Teilstrecke.

Nach und nach versetzt die Familie Schmuck, Spielzeug, Kleidung und sogar Autoteile. Mit jedem gefahrenen Kilometer lässt man Erinnerungen hinter sich, das Medaillon der Schwester, das Familienfoto im Silberrahmen, der Ehering der Mutter. Diese ganze Reise wird erzählt als die nüchterne Aufzählung eines Kindes. Hinter Sätzen wie „Diese Dame wollte auch den Schleier zum Hochzeitskleid, aber meine Mutter hatte ihn nicht und auch keine anderen Hochzeitssachen mehr außer meinem Vater“ offenbart sich die ganze Tragik der Geschichte. Dieser Text ist ein eindrucksvolles literarisches Road-Movie, wie ich es noch nie so geballt auf fünf Seiten gelesen habe.

Doch leider hat sich Michael Kimball nicht damit begnügt, eine Kurzgeschichte zu schreiben. Er musste diesem ersten Kapitel, in dem alles gesagt ist, noch viele weitere folgen lassen. Kimballs Roman setzt sich aus den Stimmen zweier Kinder zusammen. Da ist der Junge, der die Fahrt der Familie geographisch vermisst, der die Flucht nach Orten und zurückgelassenem Besitz kartographiert. Die zweite Stimme ist die der kleineren Schwester, die versucht, mit ihrer Puppenfamilie das Auseinanderbrechen der eigenen Familie zu verarbeiten, mit einem kindlichen Voodooglauben den toten Bruder zurückzuholen. Und gerade die Stimme des Mädchens ist es, die den größten Schwachpunkt der Erzählung bietet. Kimball lässt sie in einer verqueren Kunstsprache zu Wort kommen, die alles andere als kindgerecht ist – wenn nicht auch die Übersetzung hiefür mit verantwortlich zu machen ist, was einige Formulierungen zumindest nahe legen.

So laufen letztlich auch Kimballs Versuche, den Leser zu schocken, ins Leere. Als seien die Eltern einem David Lynch- oder David Cronenberg-Film entstiegen, haben sie nämlich die Leiche des Babys präparieren lassen und führen den Sarg, den die Kinder als zugenagelte Spielzeugkiste bezeichnen (worauf der Suhrkamp-Klappentexter auch prompt beim Überfliegen des Buches hereingefallen ist – muss man für den Beruf nicht zumindest Lesekompetenz mitbringen?), im Kofferraum mit sich. Doch der tiefere Sinn dieses Handelns bleibt im Verborgenen und man gewinnt leicht den Eindruck, dass es Kimball hauptsächlich auf den Tabubruch ankommt, wenn er die Kinder mit der Leiche spielen lässt oder das Mädchen detailliert von der Fehlgeburt der Mutter und der darauf folgenden Ausschabung berichten lässt – das Krankenhaus, in dem hierbei Kinder zusehen dürfen, möchte ich sehen. Ein bisschen weniger Effekthascherei wäre hier mehr gewesen.

Dennoch macht dieser Erstling neugierig auf mehr von Michael Kimball und das Internet-Literaturmagazin www.taintmagazine.com, für dessen Fiction-Ressort Kimball zuständig ist, ist auf jeden Fall mehr als nur einen Klick wert.
Frank Schorneck


Michael Kimball: Eine Familie verschwindet. Deutsch von Brigitte Heinrich. Suhrkamp, 147 Seiten, Euro: 19,00. ISBN: 3518413651