Geschrieben am 30. Mai 2012 von für Bücher, Musikmag

Mohr Music: Oliver Uschmann: Überleben auf Festivals

Oliver Uschmann: Überleben auf FestivalsDer Bollo und die Betty

Weißt du noch, damals in Scheeßel? Sommerzeit, Festivalzeit: Oliver Uschmanns Buch kommt da gerade richtig, findet Christina Mohr…

Obwohl es sich qua Titel als (nicht ganz ernst gemeinter) Ratgeber ausgibt, ist Oliver Uschmanns „Überleben auf Festivals“ in erster Linie ein Buch, bei dessen Lektüre man ständig den/die neben sich sitzende/n Lebensabschnittspartner/in in die Rippen stößt und fragt, „weißt du noch?“ „Weißt du noch, wie wir Düsi damals beim Hurricane kopfüber ins Dixi-Klo gesteckt haben?“ „Weißt du noch, wie du besoffen bei Rock am Ring dem Rammstein-Fan gesagt hast, dass er schwul ist?“ „Weißt du noch, als du beim Bizarre für fünfzig Euro alte Sisters of Mercy-Cassetten gekauft hast?“ „Weißt du noch, wie du in Wacken den Brave Heart gemacht hast?“ Usw.pp.

Fragen dieser Art kann man sich natürlich nur stellen, wenn man zur Spezies der FestivalbesucherInnen gehört – die allerdings im Lauf der letzten Jahre auf Millionengröße angewachsen ist und keineswegs als winzige Minderheit musikbesessener Freaks angesehen werden kann. Es gibt von Mai bis Oktober Spezialveranstaltungen für jeden nur erdenklichen Musikgeschmack (Techno, Reggae, Jazz, Hardrock, Gothic, Singer-/Songwriter, Gitarrenrock, Dubstep, Indie, Elektro, Death Metal, Volksmusik), daneben die großen Festivals mit Sammelbecken-Charakter wie Rock am Ring, die jedes Jahr mit dem exakt identischen Line-up aufwarten (Main Stage: Die Toten Hosen und/oder Die Ärzte, Radiohead, Coldplay; Alternative Stage: Beatsteaks, Donots, The Busters).

Die Rezensentin muss an dieser Stelle einschieben, dass ihre persönliche Festivalbesucherinnen-Laufbahn vor langer Zeit abgeschlossen wurde. Damals, es mag in den späten 1980er- bis mittleren 90er-Jahren gewesen sein, gab es all die von Visions- und Galore-Autor Uschmann beschriebenen Besuchertypen noch nicht, höchstens in ihren rudimentären Vorformen: der Vandale, der 90er-Jahre-Kinnbart, der Bollo, die Betty, der Retro-Rocker, die Lese-Lara und vor allem der Twitterer schlummerten noch süß in ihren Wiegen, sofern sie überhaupt schon geboren waren. Beim Bizarre-Festival anno 1989 wurde nicht „getwittert“, sondern man bekam Adressen schwarzgewandeter Bleichgesichter zugesteckt, die beobachtet hatten, dass man mit seiner Agfamatic Pocket Camera Fotos vom Auftritt von Fields of the Nephilim gemacht hatte, auf denen aber nach der Entwicklung außer einer Trockeneisnebelwand mit Hut obendrauf nichts zu erkennen war. Verspürte der Indie-Connaisseur Hunger, stillte er diesen zwar auch mittels überteuerter Pilzpfännchen mit Knobisauce, aber außer feierfreudigen Ramones-Fans, die aus dem Nachbarzelt rund um die Uhr „Rocket to Russia“ in voller Lautstärke dröhnen ließen, hatte man nichts zu befürchten.

Okay, es konnte schon mal passieren, dass ein arg angeschlagener EBM-Recke versehentlich auf dein Zelt pinkelte oder dass man sich kurz vor dem Auftritt von THE CURE mit Simply Red-Fans in Smalltalk begeben musste, aber sonst: eitel Sonnenschein, Frieden, tolle Bands, Heimreise nach zwei Tagen moderaten Ausnahmezustands.

„GEIL-O-MAT!“

Oliver Uschmann, Jahrgang 1977, kennt andere Verhältnisse. Er berichtet von Wagenburgen aus Hymercars, jenem unförmigen Gefährt, mit dem früher Extremsportler in die Alpen fuhren und dauergrillenden Kegelclubs aus Remscheid. Uschmann wurde Zeuge skurriler Rituale wie der Bierrutsche, dem Errichten von Müllskulpturen, Tanzkriegen, Dixi-Klo-Anzünden und selbstredend dem Ruf nach Helgaaa, den yours truly noch nie hat erschallen hören. Und natürlich weiß Oliver Uschmann, dass ein Großteil der Festivalbesucher mit Musik nur wenig am Hut hat. Der typische, überwiegend männliche Festivalbesucher (um in Uschmann’scher Typologie zu bleiben) will feiern, sich prügeln und vor allem: saufen. Ohne Bier, Jägermeister und deren unaussprechliche Mischformen könnte kein Festival existieren – zugegeben, das war auch schon vor zwanzig Jahren so.

Dass „Überleben auf Festivals“ nicht zum reinen Nostalgie- oder adabei-Abklatschen verkommt, ist Uschmanns wunderbar exaltierter, delirierender Schreibweise zu verdanken, die den Weg vom Parkplatz zur Bühne zur Völkerwanderung umpoetisiert: „(…) Manche brechen ab und drehen um. Manche verschwinden auf dem Weg (…) Schließlich richten die Techniker den Bühnenscheinwerfer zu Beginn des Headliners für einen Moment auf das Publikum und das Licht erhellt die Falten, Narben und ergrauten Schläfen, die der Weg hierhin hinterlassen hat. ‚It´s good to see you!‘ ruft der Sänger und meint es auch so…“

Sehr, sehr komisch ist auch Uschmanns schonunglose Aufdeckung des VIP- und Gästelistenplatz-Unwesens: „(…) Seit Ende der 90er scharte jeder, der sich umfassend für Rockmusik interessierte, bis zu 50 gleichgesinnte Freunde und Bekannte als freie Mitarbeiter um sich und rezensierte in seinem Online-Magazin (…) Als ‚freier Mitarbeiter‘ hat man vor sieben Jahren im Online-Magazin eines Kumpels zur neuen CD von Emscherkurve 77 eine ‚Rezension‘ geschrieben, die aus nur einem Wort bestand: ‚GEIL-O-MAT!‘ Dieses ‚GEIL-O-MAT‘ garantiert bis heute Gästelistenzugang und Frei-Essen bei Pizza-Marion und Lee Wongs Wokpower (…)“.

Man weiß also allerspätestens hier, dass man mit Oliver Uschmann ein prima Wochenende verbringen wird, schnürt seinen Rucksack und prüft den Reifendruck des Bullys. Welches Festival? Egal, Hauptsache, Die Ärzte/Die Toten Hosen/Metallica/Donots spielen.

Oliver Uschmann: Überleben auf Festivals. Expeditionen ins Rockreich. Heyne Hardcore 2012. Flexcover. 370 Seiten. Zur Verlagsseite.

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