Kafka in Lateinamerika
Oder: Ein Roman kann vieles sein. Oder: Trauen Sie nicht den Einordnungen, die die Verlage machen. Selber lesen macht klug, schon gar im Falle von Nathan Englander. Frank Schorneck erklärt, warum …
Vorab muss ich gestehen, dass ich mich dem Roman Nathan Englanders zunächst unter falschen Vorzeichen genähert habe. Die Verlagsvorschau fehlinterpretierend, vermutete ich kurzweilige, mit absurdem Witz gespickte Strandlektüre, doch ich ahnte nicht, dass mich dieser Roman fröstelnd zurücklassen würde:
Der Jude Kaddisch Poznan geht in Buenos Aires einer tageslichtscheuen Arbeit nach: Auf einem Teil des jüdischen Friedhofs, durch eine Mauer von den Gräbern der rechtschaffenen Toten getrennt, ruhen jüdische Huren und Zuhälter, ehemals Angehörige der „Gesellschaft des wohltätigen Ich“, in der sich die Wurzeln so mancher jüdischen Familie finden. Die mittlerweile – wir schreiben das Jahr 1976 – gesellschaftlich etablierten Nachkommen möchten diese Herkunft unter den Teppich kehren und so zieht Kaddisch – selbst Sohn einer Hure – im Schutz der Nacht los, um gegen Geld Namen von den Grabsteinen zu meißeln. Kaddisch ist ein Träumer und ein Unglücksrabe, seine Frau Lilian ernährt die Familie mit ihrer Anstellung in einer Versicherungsagentur und ist für rationales und überlegtes Handeln zuständig. Der jugendliche Sohn Pato hat nicht viel mehr als Verachtung für seinen Vater und dessen „Beruf“ übrig. Er sucht Orientierung in seinem studentischen Freundeskreis und in linken Ideen. Der Konflikt zwischen Vater und Sohn eskaliert eines Abends in einem heftigen Wortwechsel, in dem der Sohn dem Vater den Tod wünscht und dieser im Gegenzug wünscht, der Sohn wäre nie geboren worden. Noch während diese Flüche in der Luft zwischen beiden hängen, klopft es an der Tür: „Und Kaddisch ging aufmachen. Und Kaddisch bekam seinen Wunsch erfüllt. Einen Augenblick später war es, als wäre sein Sohn nie geboren worden.“
Was im ersten Teil des Romans eher unterschwellig anklingt – die Soldaten auf den Straßen, die nächtlichen Schüsse, die Nachbarn, die eines Tages nicht mehr da sind – bricht nun in den Alltag der Familie Poznan ein: Pato ist abgeholt worden, es gibt aber keinen greifbaren Grund, keine Anklage, kein Protokoll, keine Zeugen, keine Spuren – am Ende noch nicht einmal einen Beweis für seine vorherige Existenz. Für Lilian und Kaddish beginnt eine Odyssee durch Polizeistationen und Behörden. Sie treffen auf Inkompetenz, Ignoranz und Arroganz, zerreiben sich in den Mühlen eines kafkaesk anmutenden Behördenapparats. Im Zentrum ihrer Hoffnungen steht das „Ministerium für besondere Fälle“, ein abweisender Betonklotz, „eine bürokratische Müllkippe, ein Irrenhaus für diejenigen, die keinerlei Rechtsansprüche haben“.
Nasen, jüdisch – römisch
Englander fügt Puzzleteile aus dem ersten Romanteil, die zunächst grotesk-komische Züge tragen, nun zu einem bösen Ganzen: So hat Kaddisch als Naturalienbezahlung für einen seiner Aufträge mit einem plastischen Chirurgen eine Nasenoperation ausgehandelt, sozusagen das fleischliche Äquivalent zu seinen Spuren verwischenden nächtlichen Steinmetzarbeiten. Bei Lilian verunglückt die Operation tragisch: Die „jüdische“ Nase ist zwar verschwunden, statt dessen bezeichnet sie Pato nun als „römisch“, genauer gesagt als „römische Ruine“. Kaddischs Nase hingegen ist wunderbar geworden. Das Verhängnis tritt jedoch für beide ein, als ihnen die Polizisten die Verwandtschaft mit dem eigenen Sohn absprechen, da keinerlei Ähnlichkeit vorhanden sei …
Die Suche nach einem Lebenszeichen Patos wird immer aussichtsloser, die Eheleute, die sich zuvor so wunderbar ergänzt haben, zerbrechen an ihrer Macht- und Hilflosigkeit. Kaddisch, der Träumer, sieht der Realität ins Auge, dass der Sohn längst tot ist, dass er nach einem Leichnam sucht, den er beerdigen kann, während sich die zuvor so besonnene Lilian an jeden noch so kleinen Strohhalm der Hoffnung klammert. Die Ehe, die Liebe der beiden scheitert an dem unterschiedlichen Umgang mit Verlust und Trauer, vor allem an der Sprachlosigkeit, die das Unfassbare mit sich gebracht hat.
Nathan Englanders Romandebüt erzeugt einen Erzählstrudel, der den Leser immer tiefer in die Verzweiflung der Hinterbliebenen hineinzieht. Die witzigen Passagen des Buches lassen die Fallhöhe nur umso größer werden, aus der die Gefühle herabstürzen wie die Tausende politischer Gefangener, die in nächtlichen Aktionen aus Hubschraubern und Flugzeugen über dem Atlantik oder dem Rio de la Plata abgeworfen wurden.
Der Roman kann vielschichtig gelesen werden: Als Zeugnis der Argentinischen Militärdiktatur, als Allegorie auf jüdisches Schicksal, als Geschichte von Trauer und Verlust. Nicht zuletzt aber kann Das Ministerium für besondere Fälle auch als Anspielung auf heutige nordamerikanische Politik verstanden werden. Die Ortsnamen Guantanamo und Abu Ghuraib schwingen unausgesprochen zwischen den Zeilen mit, wenn es um Verhaftungen ohne Anklage, Folter und jahrelange Unwissenheit über das Schicksal von Angehörigen geht. Ein Roman, für den das Wort fulminant nicht übertrieben ist.
Frank Schorneck
Nathan Englander: Das Ministerium für besondere Fälle (The Ministry of Special Cases, 2007). Roman. Deutsch von Michael Mundhenk. München: Luchterhand 2009. 445 Seiten. 19,95 Euro