Geschrieben am 19. Januar 2011 von für Bücher, Litmag

Nina Jäckle: Sevilla / Nai oder was wie so ist

Wenn Sprache (aus)wandert

– Die 1966 geborene Nina Jäckle hat sich in ihren bisherigen Romanen zu Recht den Ruf einer Autorin erworben, die ein besonders feines Gespür für Melodie und Rhythmus ihrer Prosa hat, die Möglichkeiten der Sprache auslotet, ohne dabei manieriert zu klingen. Frank Schorneck über zwei Bücher von Jäckle, die sich den üblichen Kategorien entziehen.

Die Ich-Erzählerin im Roman „Sevilla“ hat es in ebenjene spanische Metropole verschlagen. Ihr früheres Leben, ihren Namen hat sie hinter sich gelassen. Zwei Tüten voller Geld sind alles, was an früher erinnert. Sie wartet auf „ihn“, der sie finden, mit dem sie ein neues Leben beginnen wird. Nur bruchstückhaft erfährt der Leser etwas über die Tat ihres Geliebten, dessen Komplizin sie ist. Ihre Gedanken kreisen um die Fragen von Schuld und Vergebung, aber auch um die Frage, wie lange man bereit ist zu warten. Die Stadt, in der sie anfangs nur die Ausländerin, die Deutsche ist, nimmt sie auf, wird in beinahe unmerklichen Schritten zu einer Heimat. Der zu Beginn distanzierte, touristische Blick wird schärfer, offen für Details und Stimmungen. Die Gassen, in denen sie sich stets verirrt hat, werden vertraut. Vor allem aber erschließt sie sich die fremde Welt und die dort lebenden Menschen, indem sie sich der neuen Sprache öffnet. Je länger das Warten dauert, umso größer werden die Zweifel an der einst angestrebten gemeinsamen Zukunft: „Nun bin ich wohl hier angekommen, denke ich, nun würde es mich stören, ihn wiederzusehen, die Schnittkante ist verschwunden, das Leben jenseits der Schnittkante hat seine Konturen verloren, nichts fehlt mir hier, nur die Worte, um zu erzählen, aber was schon wollte ich erzählen und wem.“

Hier braucht sie das Geld nicht, doch die beiden Tüten dienen als Mahnung daran, dass er irgendwann kommen und seinen Anteil einfordern wird. Aus der Hoffnung wird eine zunehmende Bedrohung, das ersehnte Wiedersehen zum dramatischen Showdown. Jäckle betreibt keine Effekthascherei beim Aufbau von Spannung. Subtil schleicht die Bedrohung ins Idyll.

Nina Jäckle

Die Autorin vermag es, mit ihrer Sprache ein atmosphärisches Bild einer fremden Stadt zu erschaffen, ohne sich an Fakten zu orientieren, Straßennamen und Orte zu zitieren. Solche Prosa, deren Schauplätze man bei seinem nächsten Urlaub abhaken, deren Gerichte man bei der nächsten Familienfeier nachkochen kann, überlässt sie den Donna Leons der Literaturszene. Was sie mit Sevilla hingegen vermittelt, ist das authentische Gefühl der Begegnung mit einer fremden Welt.

Unterhaltsame Spielerei mit der Literatur

In ihrer Erzählung „Nai“ dagegen wird konsequent die Sprache selbst zum Hauptakteur. Viel mehr als eine Erzählung ist dieses Buch die Versuchsanordnung einer Geschichte. Ein Plot wird auf Schlüsselszenen und Situationen reduziert, Klischees augenzwinkernd entlarvt. Held der Geschichte ist Nai, von dem es heißt, er sei kein Junge, aber auch kein Mädchen. Ihm werden allerdings typische Männeraufgaben zugewiesen wie das Erretten der allerschönsten Frau aus der „Gewalt des allergrößten Ungestüms aller Zeiten“. Nai will ein „meisterhaftes Abenteuer“ bestehen und hat sich zur Vorbereitung solides Schuhwerk an die Füsse gebunden. So steht er aufrecht und gewappnet im Bett, als sich die Erzählstimme in seine Gedanken einmischt: „Du wartest, und du wartest, das ist alles, was du tust, und warten ist nicht viel Tat.“ Unversehens beginnt das Abenteuer, findet sich Nai mit den Füßen kniehoch in einem Fluss stehend, eine Situation, für die er mit seinen Schuhen nicht gewappnet ist.

Die Figur Nai erinnert an das weltberühmte Strichmännchen La Linea des italienischen Cartoonisten Osvaldo Cavandoli, das darauf wartet, von seinem Schöpfer am Ende der Linie mit einer neuen Aufgabe, einem neuen „Abenteuer“ konfrontiert zu werden. Kaum ist Nai einer Gefahr entkommen – und derer lauern auf dem weißen Papier viele –, taucht aus dem Nichts eine neue auf. Literarische Stilmittel werden unvermittelt ebenfalls zu Figuren, die in die Handlung eingreifen – angefangen von der Erzählstimme, die sich mit Nai streitet und als weibliche Stimme Eifersucht auf die allerschönste Frau entwickelt, bis hin zum Monolog, der sich genüsslich ausbreitet und niemanden mehr zu Wort kommen lässt (wohingegen sich der innere Monolog seinen Teil dabei denkt).

„Nai“ ist eine kluge und äußerst unterhaltsame Spielerei mit der Literatur selbst voller Wortwitz und Anspielungen. Ein Leckerbissen für alle, die Literaturwissenschaft mit Humor betrachten.

Frank Schorneck

Nina Jäckle: Sevilla. Roman. Berlin Verlag 2010. 142 Seiten. 18,00 Euro.
Nina Jäckle: Nai oder was wie so ist. Erzählung. Tübingen: Klöpfer & Meyer Verlag 2010. 90 Seiten. 14,90 Euro. Mehr zu Nina Jäckle hier.