Wie man früher dachte
– Es muss irgendwann in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts gewesen sein. Da trafen sich in einem Frankfurter Volksbildungsheim linke Studenten, Hochschullehrer, Sozialarbeiter, Gewerkschaftssekretäre, Lehrer, Ärzte und sozialrevolutionär bewegte protestantische Pfarrer zu einem großen kapitalismuskritischen Palaver. Und am Rande des Saals hatte auch Peter Gente seinen mobilen Büchertisch mit Broschüren, Pamphleten und merkwürdig monochrom gestalteten Paperbacks aufgebaut. Es wimmelte da nur so von Titeln und Autoren, die allesamt der radikalen intellektuellen Linken in Italien und Frankreich zuzuordnen waren. Texte deutschsprachiger Autoren fand man nicht auf diesem Wühltisch der intellektuellen Revolte gegen das kapitalistische System im Weltmaßstab und im Besonderen in Frankfurt-Bockenheim. Es gab auch andere Bücherstände von anderen Kleinverlagen und Bürgerinitiativen, aber die schmalen Büchlein des ‚Merve’-Verlags waren verlockender, unorthodoxer, auch exotischer als die damals gängigen Publikationen der „linken Szene“ mit den immer gleichen Titeln und langweiligen Revolutionsslogans.
Dass ausgerechnet dieser kleine Berliner Verlag einmal eine Bedeutung in der zeitgenössischen deutschen Geistesgeschichte spielen würde, konnte sich damals niemand vorstellen. Und noch weniger konnte man erahnen, dass jemand wie der so herrlich im Berliner Tonfall über die Arbeiterkämpfe bei FIAT oder Renault, die „Anti-Psychiatrie“ in Italien und die Studentendemos in Paris und Berlin parlierende Peter Gente einmal eine zentrale Rolle in einem elegant geschriebenen Sachbuch über die theoretischen Debatten in Deutschland zwischen 1960 und 1990 spielen würde.
Zu dieser Zeit rund um das legendäre, auch nostalgisch verklärte Jahr 1968 existieren inzwischen eine ganze Reihe von Biographien, Autobiographien, politischen Abrechnungen und historische Untersuchungen. Und da die Generation der Zeitzeugen jetzt nach und nach in das Pensionsalter kommt, ist auch noch mit einer Reihe von Erinnerungsbücher an die ‚Jahre, die Ihr kennt’ (Peter Rühmkorf) zu rechnen. Der Autor Philipp Felsch (geboren 1972) aber gehört bereits jenen Intellektuellen an, die von der „68er Bewegung“ nur etwas vom Hörensagen oder aus Büchern wissen. Die aber – und das trifft auf ihn ganz besonders zu – in einer Zeit an die Universität kamen, als den „linken Erzählungen“ in marxistischer Tradition immer weniger zugehört wurde und man den Diskursen französischer, teilweise auch italienischer Intellektueller mehr Neugierde entgegenbrachte.
Und für diesen Bruch mit der insbesondere von dem Suhrkamp-Verlag repräsentierten linken Hegemonialkultur rund um die Kritische Theorie der Frankfurter Schule und dem „neuen Denken“ besonders aus dem Umfeld der französischen Post-Marxistischen Kultur, steht exemplarisch der Merve-Verlag. Sein Gründer Peter Gente, den Felsch manchmal etwas übertrieben ikonenhaft verklärt, war in den Anfangsjahren seiner intellektuellen Reifung vollkommen von den „Minima Moralia“ von Adorno besetzt, die er nach eigenen Aussagen ständig in der Anzugsjacke bei sich trug. „Das dicke Dossier, das der Adorno-Fan Gente zusammentrug, bildete sein Startkapital als Büchermacher. Auf dem Theoriearchiv….sind später die ersten Merve-Titel entstanden“. Langsam verdämmerte das Interesse an Adorno und wurde immer mehr überlagert von der Neugierde für die kämpfenden proletarischen Avantgarden, die das System nicht mehr nur klug erklären, sondern in seinen Fundamenten erschüttern wollte.
Nächtelang wurde da zum Beispiel der Wälzer „Öffentlichkeit und Erfahrung’ von Oskar Negt und Alexander Kluge (beide noch eindeutig von der Frankfurter Schule geprägt) in Wohngemeinschaften und Arbeitsgruppen durchgeknetet. In den Urlaub fuhr man nach Italien, das Land von „Lotta Continua“, den Alternativradios und – nicht zu vergessen – das Paradies von Pasta e Vino Rosso. Hier wurde man aber auch mit einer Diskussion über die Legitimität von Gewalt als Mittel des Umsturzes konfrontiert, die man so bis dahin in Deutschland noch nicht kannte. Als die „bleiernen Jahre“ zeitverzögert auch in Deutschland spürbar wurden, begann bei vielen Intellektuellen eine starke geistige und moralische Verunsicherung. Gehörten die RAF und die Brigate Rosse noch zum linken Familienalbum oder zerstörten sie mit ihren Entführungen und Attentaten alle Hoffnungen auf eine sozialistische Alternative zum „kapitalistischen Schweinesystem“ (Szenejargon jener Jahre)?
Wer sich wie die Macher des Merve-Verlags weder der „Gewalt-Fraktion“ noch den sozialdemokratischen Reformern zurechnen wollte, war gezwungen, nach neuen Fragen und Antworten zu suchen. Durch Übersetzungen, von denen viele auch bei Merve publiziert wurden, entdeckten immer mehr junge Philosophie- und Soziologiestudenten, zu denen auch Philipp Felsch gehörte, die lebendige, neugierige und äußerst polemisch mit dem Marxismus abrechnende Diskussion französischer Intellektueller. Adorno war längst passè, die Arbeiterklasse wollte nicht mehr so kämpfen, wie man sich das immer erträumt hatte und das Gedankenfeuer aus den „marxistischen Kratern“ war erloschen.
Wer etwas auf sich hielt, der musste zumindest die Namen Lyotard, Guattari, Deleuze, Virilio und vor allem Foucault kennen, um in den intellektuellen Diskursen in der „post-marxistischen“ und „post-totalitären“ Zeit mitreden zu können. Ihre anspruchsvollen, oft auch hermetisch verklausulierten Texte in französischer Sprache lesen konnten nur wenige und deshalb war die Übersetzungsarbeit von Merve auch so wichtig. Suhrkamp, der größere und finanziell auch ungleich potentere Verlag, wollte die Werke der französischen Philosophen nur mit spitzen Fingern, wenn überhaupt, anfassen. Peter Gente und seine Lebensgefährtin Heidi Paris hatten da wesentlich weniger Berührungsängste und saugten alles auf, was da in Paris neu gedacht wurde. Und langsam aber stetig wurde die „Merve-Kollektion“ aus den linken Buchläden in die Kunstbuchhandlungen und Museumsshops ausgelagert.
Mit einer leserfreundlichen Eleganz flaniert der Philipp Felsch durch den langen Sommer der „Revolte von 1960 – 1990“. Erstaunlich, wie leicht man anhand von oft staubtrockenen theoretischen Debatten eine Zeit Revue passieren lassen kann. Wie man gelegentlich im Stil eines bunten VIP-Magazins die Leser teilnehmen lassen kann an privaten Treffen des Paares Gente/Paris mit den intellektuellen Größen in Pariser Bistros oder in Westberliner Kneipen.
Kurz nach dem Erscheinen erhielt das Buch eine Reihe wohlwollende bis begeisterte Kritiken. Aber bei mancher locker dahinformulierten Bemerkung kommt man als Leser doch ins Stocken. Die SPD habe mit ihrem Trennungsbeschluss gegenüber dem SDS linke Studenten „ins Prekariat gestoßen, das freilich bald durch DDR-Gelder aufgepolstert wurde“. Dass der DDR-Stasi versucht hat, die linke Studentenbewegung von 1968 zu unterwandern und mit Geldern zu stützen, ist nichts Neues. Aber ist diese dahingeplauderte Verallgemeinerung zutreffend und beginnt damit in der Bundesrepublik die Geschichte der Neuen Linken? Und kann man es sich so leicht mit dem „Alterswerk“ von Max Horkheimer machen, indem man ihn zum „Mystiker im Tessin“ abwertet? Da werden dann schon mal Namen in die fortlaufende Chronik des Theoriesommers eingeführt, von denen man schon gerne etwas mehr wüsste. Aus einem Plädoyer des einstmals ebenso extrem linken, wie heute extrem rechten Horst Mahler werden die Namen „Rodewald-Negt-Röhl“ zitiert, ohne zumindest in einer Fußnote zu erklären welche Tragödie sich etwa mit dem Namen Fritz Rodewald verbindet. Von Otto Muehl, einem der Protagonisten der „Wiener Künstler-Avantgarde in den Sechziger-, Siebzigerjahren, wird lapidar gesagt, er habe schließlich ein „neues Betätigungsfeld als Kommunarde“ gefunden. Heute weiß man nun wirklich mehr über den kriminellen Charakter seines Pädophilen-Camps im Burgenland.
Dieses Buch, das doch dem intellektuellen, kulturellen und politischen „Sommer“ einer ganzen Generation gewidmet ist, endet schließlich in einem tristen, grauen Epilog. „Im Spätsommer 2002 nahm sich Heidi Paris das Leben…Peter Gente starb Anfang 2014 im Norden Thailands, wohin er sich nach dem Tod seiner Partnerin zurückgezogen hatte. An der Beerdigung nahmen „Professoren, Übersetzer, Arrivierte, gealterte Bohemiens teil, die im normalen Leben wahrscheinlich kaum noch miteinander zu tun hatten.“ Vielleicht hat ja George Steiner recht, dessen scharfen Kritiken an den französischen Dekonstruktivisten sicherlich niemals eine editorische Heimat bei Merve gefunden hätten: „Denken macht traurig“.
Carl Wilhelm Macke
Philipp Felsch: Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960 – 1990. C.H. Beck-Verlag, München 2015. 327 Seiten. 24,95 Euro.