Geschrieben am 1. Januar 2006 von für Bücher, Litmag

Philippe Djian: Reibereien

Wie eine letzte Zigarette

Der französische Kultautor Philippe Djian knüpft an sein temperamentvolles Frühwerk an. Von Markus Kuhn

Philippe Djian hat den Alltag in die Literatur geholt. Von Anfang an sind scheinbar triviale Sinneseindrücke und die Beziehungen zwischen den Figuren die Motoren seiner Romane. Ob es um das Begehren der Nachbarin, die Qualen enttäuschter Liebe oder eine euphorische “amour fou“ geht, ob seine Erzähler Machos, Musikdozenten oder Gelegenheitsarbeiter sind, das Abenteuer Alltag zieht sich von Djians sinnlich-lebensflirrendem Frühwerk bis zum Spätwerk, das ironisch um verschiedene Facetten des Älterwerdens kreist. Dabei ist die Poesie des Trivialen niemals nur ein Effekt, sondern immer auch eine Frage der Weltsicht.

Mit seinem Roman „Reibereien“ knüpft Djian jetzt, nach zwei schwächeren Werken, an sein schnelles, erzählfreudiges Frühwerk an. Frauen spielen bei Djian immer eine wichtige Rolle – und so auch hier: „Ich verlasse dich nie!“, tröstet der elfjährige Sohn die Mutter, nachdem sein Vater sie verlassen hat und das macht er wahr, ob sie will oder nicht. Dass ihm dabei das eigene Leben entgleitet, ist vorprogrammiert. Dabei könnte alles so gut laufen: er hat Geld, einen tollen Job und wird von vielen Frauen begehrt …

Djian entfaltet die Lebensgeschichte des männlichen Protagonisten an Hand des komplizierten und komplexen Verhältnisses zu seiner Mutter. Mit elf macht sich der Junge bei handfesten Streitereien seiner Eltern noch in die Hose, mit 22 muss er seine Mutter nachts von Partys abholen, auf denen sie sich gnadenlos betrinkt und zwanghaft nach Männern sucht, mit 40 findet er eine Lösung für ihren alkoholabhängigen Lebenspartner und schließlich steht er zwischen ihr und seiner alleinerzogenen pubertierenden Tochter, die sich zuerst in einen 60-Jährigen verliebt, um dann ausgerechnet auf einen moralfreien Rockmusiker umzuschwenken.

Neue „Lost Generation“

„Reibereien“ ist eine schnelle, mitreißende Erzählung über eine neue lost generation, die sich zwischen Lifestyle und Neokonservatismus aufreibt. In wenigen, detailliert ausgestalteten Szenen skizziert Djian das Leben seines widersprüchlichen bürgerlichen Antihelden, dessen Rebellion sich auf kleine Gesten beschränkt, der kein Problem damit hat, vom Materialismus der kapitalistischen Gesellschaft zu profitieren, deren Auswüchse er ablehnt.

Auch wenn „Reibereien“ das Abenteuer Alltag fortschreibt und in einigen Punkten an die faszinierendsten von Djians frühen Romanen wie „Betty Blue – 37,2° am Morgen“ oder „Matador“ erinnert, die Dichte und Aufbruchsstimmung dieser elektrisierenden Erzählgewitter erreicht der Roman nicht. Vor allem eins trennt „Reibereien“ vom Duktus des Djian’schen Frühwerks: das pessimistische Weltbild, das schon den Vorgängerroman „Sirenen“ geprägt hat.

Einen wirklichen Ausweg, eine Rettung von der teilweise erdrückenden Last des Lebens, die die Figuren zu schultern haben, bietet Djian nicht an. „Sollte man nicht jeden Augenblick im Leben äußerste Aufmerksamkeit schenken und ihn sozusagen zur letzten Zigarette vor der Hinrichtung machen, jener Zigarette, über die man soviel Gutes berichtet?“, fragt sich der männliche Held einmal. Dass das niemandem gelingen kann, ist klar. Es bleibt die trostspendende Flucht in die sinnliche Magie des kurzen, einzigartigen Augenblicks, die immer wieder zwischen den Zeilen aufblitzt.

Markus Kuhn

Philippe Djian: „Reibereien“.
Roman. Aus dem Französischen von Uli Wittmann.
Diogenes Verlag, Zürich, 2005.
Gebunden, 234 S., EUR 19,90.
ISBN: 3-257-86116-8.

30.05.2009