Weit geöffnete Fenster und Türen
„Schreiben, damit es vor sich hin summt.“ Carl Wilhelm Macke über Philippe Jaccottets Augenblicksskizzen Notizen aus der Tiefe.
„Als ich gestern abend Schuberts letzte Klaviersonate wiedergehört habe, überraschend, habe ich mir einmal mehr ganz einfach gesagt: ‚Das ist es.’ Das ist es, was unerklärlicherweise standhält, gegen die schlimmsten Stürme, gegen den Sog der Leere; das ist es, was wahrhaftig verdient, geliebt zu werden: die zarte Feuersäule, die einen führt, selbst in der Wüste, wo es weder Grenzen noch Ende zu geben scheint.“ Auch Philippe Jaccottet selbst, der hier nach dem Anhören einer Schubert-Sonate in Verzückung geraten ist, schreibt eine Prosa und eine Lyrik, die man einfach nicht in Worte zu fassen weiß, die erklären, warum sie einen so gefangen nehmen, manchmal verzaubern.
Seit Jahren schon erscheinen seine Bücher im Hanser Verlag in formidablen Übersetzungen (Friedhelm Kemp, Sander Ort, Elisabeth Edl, Wolfgang Matz ), aber in der lesenden Öffentlichkeit werden sie nur von einem kleinen exquisiten Kreis zur Kenntnis genommen. Vielleicht, weil den Büchern von Jaccottet ein „Plot“ fehlt, von aufwühlender Spannung ganz zu schweigen. Weil er „nur“ Aufzeichnungen vorlegt, die irgendwo changieren zwischen Tagebuchnotizen, Augenblicksskizzen, literarischen „Landschaftsaquarellen“, Meditationen zur Geschichte, lyrischen Aphorismen. Diese Literatur zu lesen, zu begreifen, zu goutieren – warum sollten das Gegensätze sein? –, muss man sich Zeit nehmen, viel Zeit. Den in der Schweiz geborenen und heute in einem kleinen Ort in der Provence lebenden Jaccottet in irgendeine Schublade zu stecken, einer „Tradition“ zuzuordnen, fällt schwer. Und letztlich ist es auch uninteressant – jedenfalls für mich –, ihn in einen literarischen Rahmen zu zwängen. Ihn zu lesen in, die Wiederholung ist hier zulässig, in einer so wunderbaren deutschen Sprache, die wir meisterhaften Übersetzern verdanken, ist ganz einfach ein Schutz „gegen die schlimmsten Stürme“, denen man Tag für Tag im Meer der Werbespots, der Politikerplatitüden, des Talk-Mülls ausgesetzt ist.
Man muss etwa die Aufzeichnungen von Jaccottet von einer Reise nach Israel lesen, um eine Ahnung davon zu bekommen, was wir durch die täglichen (und wohl auch nützlichen) journalistischen Korrespondentenberichte aus Israel und aus Palästina aus dieser geschundenen Zone der Welt nicht erfahren. „Hätte man sein ganzes Leben lang lauter schreien müssen als Henker und Opfer? Doch wer kann heute schon ‚richtig schreien’, wie es von den Propheten gesagt wird, die auf diese Weise die gottlosen Könige gestürzt haben sollen … Ich habe angst, dass die Macht des Geldes, die sich wie eine Seuche ausbreitet, alles, was es an Menschlichem gibt, bis auf die Wurzeln verdirbt.“
Und in dem Kapitel „Notizen aus der Tiefe“, das dem ganzen Band den Titel gegeben hat, heißt es an einer Stelle: „Einfach nur schreiben, ‚damit es vor sich hin summt.’ Stärkende Worte; nicht um zu beeindrucken, sondern um zu schützen, zu wärmen, zu erfreuen, selbst für kurze Zeit.“ Ja, so ist es: Wenn man die Bücher von Philippe Jaccottet liest, immer und immer wieder, dann „summt“ diese Wortmelodie in einem weiter und weiter. Man kann nicht genug davon aufsaugen, weil man sonst befürchtet, auszutrocknen in einer immer leerer, bedeutungsloser, aggressiver werdenden Sprachwüste um uns herum. „Jedes Buch“, heißt es einmal an einer anderen Stelle („Landschaft mit abwesenden Figuren“), „das dieses Namens würdig ist, öffnet sich wie eine Türe, oder ein Fenster“. Weit geöffnet sind die Fenster und Türen, die uns in das Werk von Philippe Jaccottet einladen. Wir müssen nur eintreten.
Carl Wilhelm Macke
Philippe Jaccottet: Notizen aus der Tiefe.
Deutsch von Friedhelm Kemp, Elisabeth Edl und Wolfgang Matz.
München: Edition Akzente: Hanser Verlag 2009. 168 Seiten. 17,90 Euro.