Und dennoch
– Zu den Aufzeichnungen von Philippe Jaccottet. Von Carl Wilhelm Macke.
In einem frankfurter Nobel-Hotel anläßlich der jährlichen Buchmesse. Man sieht dort „ausschließlich korrekt gekleidet Herren mit Krawatte, niemand grüßt irgendwen im Aufzug oder sonstwo. Man braucht keinen Personalausweis mehr: die Bankkarte ist der einzig gültige Reisepass.“ Hier hat der Dichter – und nicht nur er – das Gefühl, „dass die Poesie tausend Meilen von all dem entfernt ist, auch vom Jahrmarkt der Eitelkeiten literarischer Salons.“
Und liest man die Aufzeichnungen von Philippe Jaccottet, dann glaubt man sich auch für die Dauer der Lektüre weit, weit weg von der ‚Welt da draußen’, von dem Sekundentakt mit denen die ‚Global News’ auf einen niederprasseln, von „Mord und Totschlag auf allen fünf Kontinenten“ (Michael Krüger), von Bankencrash und Flüchtlingskatastrophen. Aber – und das macht das Besondere der Aufzeichnungen von Philippe Jaccottet aus: man fühlt sich trotzdem nicht in einem abseitigen Winkel, in dem ein alter Dichter (im Juni wird Jaccottet 90 Jahre alt) verbittert und zerknirscht über den Niedergang der Werte und die edle alte Zeit räsoniert.
In dem sehr lesenswerten Nachwort schreiben Elisabeth Edl und Wolfgang Matz, seine langjährigen Freunde und Übersetzer, wie sehr der „Neubeginn“, das „Dennoch“ und „Trotz allem“ in dem literarischen Werk Philippe Jaccottet spürbar ist. „Nichts ist hier erledigt, abgeschlossen, endgültig geleistet. Der Zweifel, Selbstzweifel ist seinem Schreiben von Anfang an eingeprägt“. In einer Aufzeichnung von Jaccottet am 5. Februar 1970 heißt es: „Ich wehre mich dagegen, dass das Grauen die ganze Weite meines Himmels infiziert.“ Und genau deshalb ist es so befreiend, so ermutigend, so alle Sinne öffnend, immer wieder Gedichte und Aufzeichnungen von Jaccottet zu lesen. Die Eintragung vom 8. Januar 2000 etwa: „Es ist …überraschend, dass das Wort ‚schön’ so allgemein verboten zu sein scheint, und ausgerechnet wenn man über Kunst redet…im Konzert, im Museum, bei unseren Lektüren. Wir sind noch nicht soweit, dass wir in den Städtendie hässlichsten Bauwerke oder Viertel suchen und dass wir im Konzert etwas hören wollen, was uns am stärksten missfallen könnte. Selbst wenn der Begriff des Schönen sich verändert hat und sich noch weiter verändern wird.“
Ein „Homme des Lettre“
In den Aufzeichnungen von Philippe Jaccottet , die ja inzwischen bereits in einer ganzen Reihe von Übertragungen ins Deutsche vorliegen, erfährt man noch etwas aus der Gedanken- und Wahrnehmungswelt einer Generation von Schriftstellern, deren Repräsentanten uns heute fast täglich verlassen. Der in der Schweiz geborene und seit Jahrzehnten in einem kleinen Flecken im Süden Frankreichs lebende Jaccottet hat sich immer auch als ein Botschafter zwischen der französischen, italienischen, schweizerischen und deutschen Kultur verstanden. Hölderlin, Rilke, Ungaretti, Montale, Baudelaire, Proust, Robert Walser sind seine literarischen Portalfiguren. Und gut befreundet mit Handke, ist ihm auch die österreichische und mitteleuropäische Literatur nicht fremd. Ein wirklicher „Homme des Lettre“ also, der einem noch von Begegnungen mit Schriftstellern berichten kann, die die Generationen nach ihm allenfalls aus der Lektüre kennen. Und nur wenige können heute noch so ‚schön’ (siehe seine Aufzeichnung über das ‚Schöne’ ) über Landschaften, Gärten und Blumen schreiben wie Philippe Jaccottet.
Die Blumen im „hohen Gras, die kaum berührt, schon ihre Blüte verlieren, nachgebend dem leisesten Hauch: wie der Klatschmohn auf langen Stengeln, Gipfel der Zerbrechlichkeit, kleine Pavillons, kurzlebig, vergänglich, für ein Volksfest, einen Dorfschmuck. Doch es ist jedenfalls immer ein Fest, eine Feier, eine Art Zustimmung: niemals Verweigerung, niemals Weinen“. Die letzte hier in diesem Buch festgehaltene Aufzeichnung datiert vom 13. März 2009: „Heute, da ich nicht ohne Erleichterung die Abschrift dieser Auswahl aus einem halben Jahrhundert beende, gefällt es mir, dass sie auch diese Weise endet, mit der tanzenden Gestalt der Flora und so weit entfernt von unseren Debakeln“. Jaccottet lesend, vergisst man das Grauen, das Hässliche, das Entsetzliche dieser Welt nie – und dennoch: es gibt es auch das Schöne, das, wie Edl und Matz schreiben, „ das Glück mit einer Poesie, einem Dichter und seiner Sprache zu leben, anders zu leben, als man es ohne ihn tat.“
Carl Wilhelm Macke
Philippe Jaccottet: Sonnenflecken, Schattenflecken. Gerettete Aufzeichnungen 1952-2005. Übersetzt von Elisabeth Edl und Wolfgang Matz. Carl Hanser Verlag, München, 2015. 252 Seiten. 22,90 Euro.