Geschrieben am 1. Januar 2005 von für Bücher, Litmag

Pierre Mérot: Säugetiere

Das schwarze Schaf und der Alkohol

Schon wieder ein neuer Houellebecq? Eine Frage, die in Frankreich immer dann aufflammt, wenn ein Roman die Skandaltrommel rührt oder einen gnadenlosen Blick auf die Grausamkeiten der Gesellschaft wirft. Doch Pierre Mérots „Säugetiere“ – komisches Porträt eines Familienversagers und bitterböse Gesellschaftssatire – überzeugt bei aller Vergleichbarkeit durch seine Eigenständigkeit. Von Markus Kuhn

Jede Familie braucht ihr schwarzes Schaf. Und gibt es ein idealeres schwarzes Schaf als den 40-jährigen o­nkel, der zwar die besten Schulen besucht, aber nie die zu erwartenden Früchte hervorgebracht hat? Der um die vierzig Zigaretten am Tag raucht, seine sexuellen Obsessionen pflegt und an einem Abend mehr als vier Liter Bier in sich hineinschütten kann? Der in seinem Leben so viele Schlappen erlitten hat, dass die Familie in ihren hehren und gerechten Ansichten immer wieder bestätigt werden konnte: Arbeitslosigkeit, Scheidung, das Ausbleiben von Nachkommen, wilde Ehen mit geschiedenen Frauen oder missglückte Eingliederungen in die Haushalte Alleinerziehender.

Gnadenloser Blick eines Versagers

Pierre Mérots Säugetiere ist mehr als das scharfsinnige und komische Porträt eines 40-jährigen Versagers, der seine Nächte in den Bars des Viertels verbringt und auf dem besten Weg ist, sein Berufs- und Gesellschaftsleben zu zerstören. Der so eigentümliche wie gnadenlose Blick, den das schwarze Schaf auf seine Zeitgenossen wirft, entlarvt auch deren Heuchelei und die fatalen Täuschungen menschlichen Miteinanders.

Säugetiere ist eine bitterböse Gesellschaftssatire, die provokant übersteigert wird, wenn der Erzähler menschliche Sippschaften mit denen anderer Säugetiere vergleicht. Der als „Onkel“ bezeichnete namenlose Protagonist ist ein Trinker, der frei nach der Maxime seines Freundes lebt: „Wenn du Alkohol kaufst, mußt du immer die größtmögliche Menge kaufen, weil du grundsätzlich mehr trinkst, als du wolltest.“ Angefangen hat seine Alkoholsucht mit einer nervösen Depression, die der Militärdienst ausgelöst und ein selbstgefälliger Psychiater mit seinen lebensfremden „Heil“-Methoden noch verstärkt hat. Die Scheidung von seiner ersten Frau, einer „depressiven Polin“, und eine Reihe beruflicher Enttäuschungen – im Forschungsbereich eines Pariser Museums, bei einer Zeitschrift, in einem Verlag und als Lehrer – steigerten seinen Drang zur Selbstzerstörung.

Drang zur Selbstzerstörung

Im Verlag Ubu, dessen seltsamer Betrieb mit erheiterndem Scharfblick auseinander genommen wird, lernt der o­nkel einen nach Erfolg strebenden Autor kennen, der als fiktionales Alter Ego Michel Houellebecqs erkennbar ist. Diese kleine Anspielung auf den französischen Skandalautor – inmitten einer Fülle literarischer und kultureller Anspielungen – hat gereicht, um viele französische Zeitungen auf die Idee zu bringen, in Mérot einen neuen Michel Houellebecq zu sehen. Aber, wenn sich auch beide durch eine überaus grausame Gesellschaftskritik auszeichnen, wenn auch beide fragwürdige Vergleiche zwischen Tier und Mensch effektvoll platzieren, darf man doch nicht übersehen, dass Mérot da komisch und unterhaltsam ist, wo Houellebecq wissenschaftlich-essayistisch und mehrschichtig ist. Mérots Säugetieren fehlt sowohl Houellebecqs Skandalpotential, als auch seine Drastik – sie schneiden nicht so brutal ins Mark wie etwa die Elementarteilchen.

Originell, vielseitig und lebendig

Dafür ist Mérots Stil originell, vielseitig und lebendig. So schrecklich entmutigend die Inhalte auch sind, so amüsant sind der boshafte Witz und die zynischen Pointen. Gegen Ende verselbständigen sich diese allerdings, so dass der Text seinen Realitätsbezug und damit seine satirische Schärfe verliert. Auch einige geschmacklose Perversitäten wirken wie der missglückte Versuch Mérots, die bereits vorhandene Brisanz des Textes noch einmal zu überbieten.

Dennoch gehört die Übersetzung von Mérots drittem Roman zu den interessanten deutschsprachigen Neuerscheinungen dieses Frühjahrs. Obwohl dem schon etwas abgegrasten Trend einiger Texte von Michel Houellebecq, Frédéric Beigbeder, Virginie Despentes und anderen nahe stehend, die schonungslos zeigen, wie menschliche Beziehungen versagen und der Alltag vom Zwang zum wirtschaftlichen Erfolg überschattet wird, gelingt Mérot ein bei aller Vergleichbarkeit erfrischend eigenständiges Werk.

Markus Kuhn

Pierre Mérot: Säugetiere. Aus dem Französischen von Gaby Wurster. Carl Hanser Verlag 2004. 190 Seiten. 17,90 Euro. ISBN 3-446-20463-6

14.03.2004