Geschrieben am 29. Januar 2014 von für Bücher, Litmag

Rafael Chirbes: Am Ufer

chirbes_Am uferDer Geruch des Geldes

–Rafael Chirbes hat nie optimistische Romane oder erbauliche Literatur geschrieben. Der 1949 geborene Autor übernahm die Fackel von Max Aub, dem literarischen Chronisten des Spanischen Bürgerkrieges, und schuf ein hellsichtiges und literarisch überragendes Porträt des franquistischen und postfranquistischen Spaniens bis heute.  Von Elfriede Müller.

Trotz oder gerade wegen seiner Illusionslosigkeit ist Rafael Chirbes ein erfolgreicher Autor, dem im Laufe der Jahre intellektuelles Lob und viele Preise zufielen. Diese Anerkennung hat seinen kritischen Geist nicht gebändigt. Seine beiden letzten Romane „Krematorium“ und „Am Ufer“ lassen kein gutes Haar am zeitgenössischen Spanien und den dortigen Auswüchsen des Kapitalismus.

Chirbes kommt aus der radikalen Linken, war Maoist und verleiht seinen Hauptfiguren häufig eine linke Geschichte. Gerade deshalb ist ihr Werdegang umso abscheulicher. Der Ausgangspunkt von Chirbes Literatur ist die republikanische Niederlage im Spanischen Bürgerkrieg und all das, was sie zur Folge hatte. Das Alltagsleben der armen Leute, meistens „Rote“ im Franquismus, wird in der „Der lange Marsch“, „Der Fall von Madrid“ und in „Die schöne Handschrift“ so trostlos nahegehend geschildert, dass die harte Kernseife förmlich riechbar ist.

„Alte Freunde“ und „Krematorium“ schildern die ehemaligen Linken im postfranquistischen Spanien auf dem Weg nach oben, wobei sie ihre Ideen meistens aufgeben oder sie für andere Dinge nutzbar machen.  In „Am Ufer“ wird deutlich, dass es sich um einen Trugschluss handelte, dass der Betrug der republikanischen Idee sich nicht im wirtschaftlichen Wachstum auflösen ließ, im schnellen Geld, in der Kaltschnäuzigkeit des Erfolgs. „Am Ufer“ setzt die Heideggeriansche Formel „Sein ist Sein bis zum Tode“ am Beispiel des Schreiners Esteban in einer selbst bei Chirbes bisher nicht vorgekommenen Trostlosigkeit um. So räumt der Autor auch ein, seinen bittersten Roman geschrieben zu haben.

Chirbes Werke sind auch Romane zur Wiederaneignung der Vergangenheit. Bei der Lektüre von „Am Ufer wird klar, dass die Transición ihren Preis hatte: die Erinnerung an Franquismus und Bürgerkrieg unter den Tisch zu kehren, mit dem Versprechen eines ökonomischen Aufstiegs für alle, formuliert von der sozialistischen Partei, der PSOE, die mit den Anarchisten die stärkste politische Macht im 20. Jahrhundert auf der spanischen Linken darstellte.

Ein literarischer Genuss, der Trauer und Wut auslöst

„Am Ufer“ besteht aus drei Teilen: 1. Der Fund, 2. Begehung der Schauplätze, 3. Exodus.  Zentral ist ein Monolog der Hauptfigur Esteban, umrandet von weiteren kürzeren Monologen, die alle vom Niedergang der Schreinerei, einer Kleinstadt und der postfranquistischen spanischen Demokratie künden. Esteban lebt mit 70 Jahren mit seinem an Demenz erkrankten 90jährigen Vater im zur Schreinerei gehörenden Haus. Großvater und Vater waren Republikaner, der erste wurde von Franquisten durch einen Genickschuss ermordet, der zweite verfolgt und eine Weile ins Gefängnis geworfen. Diese, von vielen andere geteilte Geschichte, überwindet der Vater nie. Sein Unglück weitet er auf seine Familie aus.

Wie immer bei Chirbes sind die Protagonisten in ihrer Komplexität Vertreter gesellschaftlicher Tendenzen ihrer Zeit. In diesem Roman handelt es sich um die Täter und die Opfer der Krise, die einen so wenig sympathisch wie die anderen. Estebans Freunde und Angestellten werden mit ihren Träumen und Lebensweisen und ihrer Beschränktheit vorgestellt. Seine bereits verstorbene große Liebe, Leonor, eine Sterneköchin, die seinen besten Freund Francisco geheiratet hat, verließ als einzige der Protagonisten den Heimatort ohne zurück zu kehren. Francisco, stammt von einer Falangefamilie ab, wird links sozialisiert, spuckt auf das Bild seines Vaters und avanciert zum ersten Weinkritiker Spaniens: „Wenn Geld zu etwas nütze ist, dann dazu, deinen Nachkommen Unschuld zu erwerben.“

Die Geschichte der Familie Franciscos erzählt von der Denunziation nach dem Bürgerkrieg, der Jagd auf Republikaner, der Beschlagnahmung von deren Gütern und dem Jahrzehnte andauernden endlosen Verrat, der sich nach der Transición erneut in politischen Opportunismus verwandelt. Die Kartenspieler in der Bar des Ortes sind noch viel widerlicher als Francisco: ein Teerpappenfabrikant, der die gesamte Sumpflandschaft verseucht hat, ein Menschenhändler, der Illegale ausbeutet und ein Sparkassenfilialleiter, der das halbe Dorf wegen nicht bezahlter Hypotheken obdachlos macht.

Die Armutsimmigration spielt in „Am Ufer“ eine wichtige Rolle, der Vater Estebans wird von einer Kolumbianerin gepflegt, in der Schreinerei ist der Nordafrikaner Ahmed beschäftigt. Chirbes macht deutlich, dass das Eis für die Migranten immer dünner wird in einem Land, wo viele arme Spanier nicht mehr wissen „wie der Kühlschrank zu füllen ist“.  Alle Stufen des ökonomischen Abstiegs werden durchgespielt, der Kredit mit der Hypothek auf Haus, Werkstatt und Grundstück, um die Rente etwas aufzubessern, die Mitkreditnehmer für Baugeld, die Auflösung der Sparkonten, dann  das erstickte Telefon, die Werkstatt außer Betrieb, das gesperrte Bankkonto: die politische Ökonomie eines Landes am Abgrund, die Zerstörung des sozialen Gleichgewichts, beispielhaft illustriert an einer kleinen Schreinerei.

Dass der Kapitalismus Leben zerstört ist eine Binsenweisheit, wird aber bei Chirbes körperlich spürbar, wenn er den geistigen und physischen Niedergang einer kleinen Gruppe Menschen schildert, von denen keiner ungeschoren davonkommt. Neben dem Schreiner Esteban ist die Hauptfigur die Krise, aber sie ist kein Schicksal, sondern von Menschen gemacht, genau wie die Landschaft, die von denselben Menschen systematisch zerstört wurde.

Chirbes gibt kein Rezept, wie aus der verfahrenen Situation zu entkommen wäre, erklärt aber bis ins kleinste Detail, wie es zu dem Desaster gekommen ist. Deshalb beginnt der Roman auch mit dem Ende, ohne dass die Leser dies wissen können, erahnt wird nur die Ausweglosigkeit. „Am Ufer“ ist kein Buch, das man leicht vergisst. Ein literarischer Genuss, der Trauer und Wut auslöst  über den Zustand der Welt zu Beginn des 21. Jahrhunderts.

Elfriede Müller

Rafael Chirbes: Am Ufer. Roman. Verlag Antje Kunstmann, München 2014. 400 Seiten. 24,95 Euro, eBook 19,99 Euro.

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