Vor der zweiten Geburt
Trotz eines umfangreichen, in zahlreichen Ländern erschienenen Werkes ist Raymond Federman auch im Alter von über 80 Jahren immer noch ein Geheimtipp. Der Avantgardist versucht in Pssst! eine autobiografische Annährung an das Trauma seiner Kindheit, voller Sprünge, Volten und Brechungen – ganz im Stil der von ihm entwickelten „Surfiction“. Von Frank Schorneck
Alles im Werk von Raymond Federman dreht sich letztlich um den einen entscheidenden Wendepunkt in seinem Leben: den Augenblick am 16. Juli 1942 gegen 5.30 Uhr, in dem seine Mutter den halb nackten 14-jährigen Jungen in einen Wandschrank schubst und mit einem „Chut!“ („Pssst“) die Tür schließt. An diesem Tag werden seine Eltern und seine Schwestern von der französischen Polizei verhaftet und deportiert. Während ihr Weg irgendwann in Auschwitz enden wird, gelingt dem Jungen die Flucht aus Montrouge bei Paris. Es verschlägt ihn in die USA, wo er zu einem angesehenen Autor und Literaturdozent wird. Seine Gefühle im Dunkel des Schranks, seine Adoleszenz als Knecht auf einem Bauernhof, seine Zeit als Fallschirmspringer bei der Army, seine Liebe zum Jazz und zu den Frauen, seine englisch-französische Doppelzüngigkeit – all das erzählt Federman in seinem umfangreichen Oeuvre, in seinen Romanen, Kurztexten, Gedichten und Poetiken. Mit seinem kürzlich auf Deutsch erschienenen Buch Pssst! nähert er sich nun erstmals der Zeit vor seiner „zweiten Geburt“: seiner Kindheit und seiner Familie nämlich, die in seinen Romanen zumeist nur durch die Leerstellen X-X-X-X gekennzeichnet sind.
Nun wäre Pssst! kein Buch von Federman, wenn es tatsächlich chronologisch die Geschichte seiner Kindheit erzählte, ohne Sprünge und Volten, ohne Finten und Täuschungen, ohne Elemente der von ihm kreierten „Surfiction“. Regelmäßig streut Federman selbstreflexive Einschübe in seine Erzählung ein, kommentiert er Geschriebenes ebenso wie Beschriebenes. In typischer Bocksprungprosa bietet er Abschweifungen ebenso wie erzählerische Sackgassen: „… was von meiner Kindheit in meinem Kopf übrig ist, das sind nur Bruchstücke, Erinnerungsreste, für die eine Form improvisiert werden muss.“
Bocksprungprosa
Der Wandler zwischen den Sprachen hat diese autobiografische Annäherung auf Französisch geschrieben, der Sprache seiner Kindheit, seines ersten Lebens. Man ist leicht geneigt, dieses Buch als Federmans persönlichstes einzuschätzen, doch auch bei dem Versuch, die Kindheit wieder auferstehen zu lassen, hütet er sich vor allzu viel Nähe, wahrt zugleich Distanz zum Erzählten und bricht zu große emotionale Gesten zum Beispiel durch den Einschub, das soeben Erzählte sei womöglich gar nicht wirklich so geschehen. So sind es nicht selten lapidar klingende Nebensätze, in denen das Schicksal seiner Familie wirklich greifbar wird, etwa wenn es über den schwindsüchtigen Vater heißt: „Einen großen Teil seines Lebens hat er im Krankenhaus verbracht, bevor er sich mit 37 Jahren zu einem Stück Seife verarbeiten ließ.“
Ohne Polemik erzählt Federman von den Denunzianten aus dem ersten Stock des Wohnhauses, von den reichen Verwandten, die alle den Nationalsozialismus überlebt haben, von den Schalterbeamten der Bank, die Jahre nach dem Krieg sein Sparbuch aus Schulzeiten nicht auszahlen wollten. Spielerisch wie immer setzt der Autor ein weiteres Puzzlestück in das große Gesamtbild seines Lebenswerks.
Federman ist auch im Alter von über 80 Jahren und einem umfangreichen, in zahlreichen Ländern erschienenen Werk immer noch ein Geheimtipp abseits des Massenpublikums. Umso mehr ist dem Weidle-Verlag nicht nur für die Veröffentlichung (gefördert von der Kunststiftung NRW) ein großes Lob auszusprechen, sondern auch für die liebevolle Gestaltung des Buches, das zu Recht von der Stiftung Buchkunst als eines der schönsten Bücher 2008 ausgezeichnet wurde.
Frank Schorneck
Raymond Federman: Pssst! Geschichte meiner Kindheit (Chut: Histoire d’une enfance, 2008).
Deutsch von Andrea Spingler.
Bonn: Weidle Verlag 2008. 204 Seiten. 23,00 Euro: