Kampf gegen unheimliche Mächte
Mit viel Einfühlungsvermögen werden flikte zwischen den Mentalitäten der kolonialistischen weißen Polizeikräfte und der in ihrer Existenz bedrohten chinesischen Einwohner in Hongkong.
Kann man die meisten Titel in der Reihen „ut metro“ mal im engeren, mal im weiteren Sinne als Kriminalromane bezeichnen, so fällt „Temutma“ aus diesem Genre deutlich heraus. Das Autorenduo lässt von der ersten Zeile an keine Zweifel aufkommen, dass hier der Kampf gegen unheimliche Mächte aufgenommen werden muss. Unter den engen Gängen und verschachtelten Kellerebenen der Kowloon Walled City, einem nahezu rechtsfreien Hochhausgebiet bei Hongkong, lauert ein uraltes und gefährliches Wesen. Es schläft, doch es spürt Unruhe in der Atmosphäre und macht sich bereit, wieder seinem dunklen Bett zu entsteigen.
Kowloon Walled City ist ein wunderbar gewählter Ort für eine im gegenwärtigen Asien angesiedelte unheimliche Story. Das unübersichtliche Gewirr von Hochhäusern, die ungeachtet jeglicher Bauvorschriften oder auch nur der Menschenwürde der Bewohner in Abständen von zum Teil nicht einmal einem Meter nebeneinander geklotzt wurden, ist eine zeitgemäße Entsprechung transsilvanischer Schlösser. Für europäische Leser sind diese Wohnverhältnisse kaum vorstellbar, so dass ich jedem nur raten kann, mal einen Blick in den im Steidl Verlag erschienenen Bildband des japanischen Fotografen Ryuji Miyamoto zu werfen. DDR-Plattenbausiedlungen gewinnen danach plötzlich paradiesische Anmut.
Nun denn, die „Walled City“ wird in den Jahren 1991/92 entmietet, um kurz darauf abgerissen zu werden. Dies ist just der Zeitpunkt, in dem „Temutma“ aus seinem Schlaf erwacht und seine Jagd auf das Blut der Hongkonger Bürger beginnt. Der Roman der Archäologin Bradley und des schreibenden Privatdetektivs Sloan ist, wenn man den exotischen Schauplatz außer Acht lässt, ein eher konventioneller Vampirroman. Irgendwo zwischen Lovecraft und Stoker auf der einen Seite und King und Barker auf der anderen, wird ein solider Spannungsbogen aufgebaut. Da ist der weise alte Wächter, dessen Aufgabe es ist, mit gelegentlichen Opfergaben das Böse in Schach zu halten; da ist das junge Mädchen, das Horrorfilme liebt und sich plötzlich innerhalb eines solchen wiederfindet; da ist der Polizist, der brutal von der Existenz übernatürlicher Wesen erfahren muss.
Genre-Liebhaber werden nicht viel Neues finden, und dennoch lohnt sich die Lektüre, da die Autoren die aufgeladene Atmosphäre im von Abriss bedrohten Stadtteil überzeugend wiedergeben, mit viel Einfühlungsvermögen die Konflikte zwischen den Mentalitäten der kolonialistischen weißen Polizeikräfte und der in ihrer Existenz bedrohten chinesischen Einwohner aufdecken.
Von Frank Schorneck
Rebecca Bradley, Stewart Sloan: Temutma. Deutsch von Jürgen Bürger ISBN 3-293-20169-5