Pulp Fiction
Grundsätzlich ist großes Misstrauen geboten, wenn Verleger ihre eigenen Werke verlegen. Denn der Subtext heißt: Sonst will sie ja keiner haben … Der Hard Case-Verleger Charles Ardai riskiert diesen Reflex und schreibt unter Richard Aleas in seinem eigenen Verlag Kriminalromane, die richtig gut sind, findet Joachim Feldmann.
In einem früheren Leben arbeitete John Blake als Privatdetektiv. Vor drei Jahren hat er diesen Job an den Nagel gehängt. Jetzt ist der Absolvent eines literaturwissenschaftlichen Studiums, Angestellter des Fachbereichs für Kreatives Schreiben an der New Yorker Columbia University und besucht nebenher Seminare. Als eine Kommilitonin tot aufgefunden wird, beginnt er auf eigene Faust zu ermitteln. Zwar deuten alle Indizien auf Selbstmord, doch Blake glaubt, dass seine Freundin Dorrie umgebracht wurde. Hätte sie tatsächlich Suizidpläne gehabt, davon ist er überzeugt, hätte sie ihn vorher benachrichtigt, damit er anschließend alle Hinweise auf ihr Doppelleben beseitigen könnte. Denn Dorrie arbeitete nebenher als Prostituierte, und das sollte ihre Familie keinesfalls erfahren.
Miserabler Ermittler
Nun ist John Blake ein derartig miserabler und unprofessioneller Ermittler, dass man sich kaum vorstellen mag, wie er als Privatdetektiv seinen Lebensunterhalt verdiente. Seine ersten Nachforschungen im Prostituiertenmilieu fördern zwar noch einige wichtige Informationen zutage, doch sobald er in eine Konfliktsituation gerät, scheint der junge Mann den Überblick zu verlieren. Dazu gesellt sich eine ungute Neigung zu spontanen Handlungen. Kaum hat er erfahren, dass der ungarischstämmige Gangster Black Ardo, dessen Einkünfte vor allem auf illegaler Prostitution beruhen, nicht zimperlich ist, wenn es darum geht, unliebsame Konkurrenz aus dem Wege zu räumen, wählt Blake den Weg der direkten Konfrontation. Er marschiert in eine ungarische Bar, stellt sich auf einen Stuhl und verlangt Ardo zu sprechen, der natürlich nicht lange auf sich warten lässt. Wie erwartet, bezieht unser dilettantischer Held eine gehörige Tracht Prügel. Und er provoziert – ohne es zu ahnen – einen brutalen Mord, in dessen Konsequenz er selbst ins Visier der Polizei gerät und untertauchen muss.
Aber wäre John Blake nicht so ein stümperhafter Detektiv, könnte man Lieder der Unschuld (der Titel bezieht sich auf William Blakes Gedichtzyklus Songs of Innocence von 1789), den zweiten Kriminalroman des amerikanischen Autors Richard Aleas, getrost all den anderen durchschnittlichen Produkten des Genres zuschlagen. Doch dieses tiefschwarze, vom Ermittler selbst vielleicht ein wenig zu pathetisch erzählte Epos von verlorener Unschuld und fehlgeleitetem Heroismus ist vor allem an der nachhaltigen Verstörung seiner Leser interessiert. Dabei ist nicht das Ausmaß des – zugegeben scheußlichen – Ur-Verbrechens, das zur Katastrophe für alle Beteiligten wird, am schockierendsten, sondern die ästhetisch vermittelte Erkenntnis, dass jeder Rettungsversuch vergeblich ist. Wenn Blake zum ersten Mal bei den ehemaligen Kolleginnen seiner toten Freundin ermittelt, ist er noch ein wenig erstaunt über deren militant sich artikulierendes Misstrauen. Wer das Buch zu Ende liest weiß, dass es überhaupt keinen Anlass gibt, überhaupt noch irgendjemandem zu vertrauen. Wenn John Blake, auf der Flucht vor der Polizei und Ardos Gefolgsleuten, irgendwann im letzten Drittel des Buches mit kahlrasiertem Schädel im tiefsten U-Bahnschacht New Yorks sitzt, wo ihm nur ein delirierender Stadtstreicher Gesellschaft leistet, ist er auch physisch dort angelangt, wo er mental seit langem war.
Richard Aleas ist das Pseudonym des 1969 geborenen Charles Ardai, der die (in deutscher Übersetzung teilweise bei Rotbuch erscheinende) Reihe Hard Case Crime gegründet hat. Hier findet man in liebevoller Retro-Aufmachung neben Noir-Klassikern von Ed McBain, Richard Stark und Lawrence Block auch aktuelle Romane, die sich die finstere Weltsicht des Genres zu eigen gemacht haben. Lieder der Unschuld zeigt, dass sich das ästhetische Potenzial der „Pulp-Fiction“ noch lange nicht erschöpft hat.
Joachim Feldmann
Richard Aleas: Lieder der Unschuld. (Songs of innocence, 2007).
Deutsch von Conny Lösch.
Berlin: Hard Case Crime bei Rotbuch 2009. 283 Seiten. 9,90 Euro.