Brilliantes Werk über den irischen Befreiungskampf
Als ob die grüne Insel nicht genügend einheimische Literaturnobelpreisträger vorzuweisen hätte, setzt die Irish Times Roddy Doyles neuen Romanhelden Henry Smart auf eine Stufe mit Oskar Matzerath.
Doch zunächst beginnt Henry Smarts Geschichte auf einer ganz anderen Stufe: Auf einer bröckelnden Vortreppe im Dublin des beginnenden 20. Jahrhunderts – an seiner Seite die Mutter und über ihm der Nachthimmel, in dessen Sternen die Mutter Henrys tote Geschwister verkörpert sieht.
Henry Smart – Sohn eines einbeinigen Türstehers und Auftragskillers – erzählt, wie seine Eltern sich kennenlernen, wie inmitten von Hunger und Elend ein Kind nach dem anderen geboren wird, nur um früh zu sterben. Nur Henry ist von Geburt an ein Prachtkerl, dick und rosig, ein Prachtkerl zwischen Ratten und Dreck. So wächst er auf in der Gesellschaft der toten Geschwister und mit dem steten Tocktock, das das Holzbein des Vaters auf dem Dubliner Kopfsteinpflaster und den berstenden Schädeln säumiger Schuldner hervorruft. Mit einer resignierten Mutter und einem vor der Polizei flüchtigen Vater ist Henry auf sich allein gestellt in einer von Armut und Krankheit regierten Welt.
Mit vierzehn nimmt Henry am Osteraufstand von 1916 teil, steigt auf in den Reihen der IRA, erledigt die Drecksarbeit für Michael Collins und bereitet für De Valera den Weg. Während Henry im bewaffneten Kampf für Irland seine Bestimmung sieht, beginnen im Hintergrund bereits Schachereien um private Pfründe, bis der gefeierte Held von einst nicht nur die Polizei, sondern auch frühere Gefährten zum Feind hat. Roddy Doyle geht mit diesem Roman konsequent seinen schriftstellerischen Weg weiter, den er mit der Barrytown-Trilogie und deren unvergeßlicher Rabitte-Familie im Jahre 1987 einschlug. Schon „The Commitments“ – von Alan Parker meisterlich verfilmt – kam auf die Auswahlliste für den Booker-Preis, den Doyle schließlich 1993 für „Paddy Clarke Ha Ha Ha“ erhielt. Mit „Die Frau, die gegen Türen rannte“ meisterte er 96 eine zutiefst eindrucksvolle und überzeugende Trinkergeschichte. War Doyle bislang dafür bekannt, hinter die Kulissen irischer Arbeitersiedlungen der Gegenwart zu blicken, von verlogenem Katholizismus, Alkoholismus, häuslicher Gewalt und Perspektivlosigkeit ebenso eindringlich wie humor- und liebevoll zu erzählen, wagt er sich nun an ein Kapitel der bewegten Vergangenheit Irlands.
Entstanden ist dabei ein zutiefst sinnlicher Roman, ein Buch voller Farben und Gerüche, voller Verzweiflung und Liebe, voller Humor und Aggressivität, voller Erotik und Trauer. Und hier ist Doyle tatsächlich (dem frühen) Grass näher als Joyce, Beckett, Shaw und Co. Wenn der mit 14 bereits ungewöhnlich erwachsene Henry mit dem geerbten Holzbein seines Vaters die Dubliner Post gegen die Engländer verteidigt, könnten durchaus auch Jan Bronski und Oskar Matzerath hinter den Sandsäcken liegen.
Dennoch liegen andere Vergleiche als der zu Grass viel näher. Zweifellos erinnert gerade der erste Teil des Romans an Frank McCourts Weltbestseller „Die Asche meiner Mutter“. Wir finden hier eine ähnliche Allianz von Elend und Humor; Lachen und Tod liegen erschreckend nah beieinander. Doch gegen Doyles Dublin ist das Limerick McCourts ein wahres Paradies. Die Beschreibung von Dreck und Gestank ist so lebendig, daß man beginnt, das Buch mit spitzen Fingern anzufassen. Zudem erzählt „Henry der Held“ eine der ungewöhnlichsten Liebesgeschichten, die die Weltliteratur zu bieten hat. Als der achtjährige Henry vor der Dorfschule steht, um sich „Bildung zu holen“, verliebt er sich in die Lehrerin Miss O’Shea. Im Kampfgetümmel um die Dubliner Post verliert er in einer furios geschriebenen Szene auf Stapeln von Briefmarkenbögen seine Unschuld an Miss O’Shea. Später wird er diese Frau heiraten, wird sich bei der Frage des Priesters an seine Zukünftige die Ohren zuhalten, um ihren Vornamen nie zu erfahren. Für ihn wird sie immer Miss O’Shea bleiben. Und Miss O’Shea wird zur verläßlichen Gefährtin im bewaffneten Kampf.
Roddy Doyle ist mit „Henry der Held“ ein brillantes Werk über den irischen Befreiungskampf gelungen. Die Unterdrückung durch England wird spürbar, ohne dass die Kämpfer der IRA glorifiziert werden. Die Drahtzieher hinter den Kulissen werden als Schacherer entlarvt, die auf den Dörfern neues Kanonenfutter rekrutieren. „Henry der Held“, in dessen mitreißender Sprache, dessen eindrucksvollen Motiven und Bildern sich genussvoll schwelgen läßt, ist Doyles bislang reifstes Buch. Es hat einen herausragenden Platz in der zeitgenössischen Irischen Literatur verdient und ist in seiner Bedeutung in eine Reihe mit Liam O’Flahertys „Famine“ zu stellen.
Von Frank Schorneck
Taschenbuch – 414 Seiten – Fischer-TB.-Vlg.,Ffm Erscheinungsdatum: 2001 ISBN: 3596151465