Geschrieben am 15. November 2016 von für Bücher, Crimemag

Roman: Angelika Felenda: Wintergewitter

fellenda-wintergewitterDown, out and dead in Munich.

München um 1920 war nach Ende des Ersten Weltkriegs zur schwer erträglichen Vorhölle geworden: Die Inflationsraten jagten in schwindelerregende Höhen, während sich radikale politische Gruppierungen immer brutaler bekämpften und die Weimarer Republik aushebeln wollten. In diesem labilen Umfeld läßt Angelika Felenda Kommissär Reitmeyer mit seinem pfiffigen jungen Sidekick Rattler ermitteln, wer einen Mord an zwei jungen Frauen beging. Neben dem historischen Hintergrundpanorama faszinieren in „Wintergewitter“ auch die vielschichtigen Figuren. Von Peter Münder.

In extremen Stress-Situationen, wenn er sich an lebensgefährliche Kriegsszenen erinnert und seine Panikattacken bekämpfen muß, betätigt sich Kommissär Reitmeyer als „Trockenspieler“: Er spielt auf einer imaginären Geige Bachs Solosonate a-Moll und dann verschwinden mit diesen Horror-Szenarien auch die Verwesungsgerüche aus den Schützengräben. Der Kriegsveteran ist trotz dieses Handicaps von der Münchener Autorin Angelika Felenda keineswegs als wehleidiges Sensibelchen gezeichnet.

Die schwierigen Mordfälle, die er in „Wintergewitter“ zu lösen hat, geht er pragmatisch und selbstbewußt an, wobei er an mehreren Fronten gleichzeitig kämpfen muss, weil die konservativen höheren Chargen im Polizeipräsidium ihm sofort auf die Finger klopfen, wenn er im Sumpf der reaktionären nationalistischen Schlägertrupps ermittelt oder auch im Dunstkreis konservativer Militärs. Es geht um zwei junge Frauen, die sich im halbseidenen Film-Milieu bewegten und offenbar umgebracht wurden, indem man ihnen größere Mengen an Morphium verabreichte.

Bei seinen Ermittlungen unterstützt ihn sein pfiffiger Assistent, der Polizeischüler Rattler; er ist ein sympathischer, etwas altkluger Schlauberger, der immer einen Weg findet, komplexe Ermittlungen voranzutreiben und unorthodoxe Befragungsmethoden mit Hilfe alter Filmzeitschriften oder Photos einzusetzen. Als Reitmeyer seinen jungen Holmes im Büro beim eifrigen Addieren diverser Summen erlebt, die sich auf den Kauf eines Fahrrads beziehen, fragt er ihn ironisch, ob er etwa ins Schiebergeschäft eingestiegen wäre. Darauf Rattler: „Na, na Herr Kommissär, ich bin an der Börse“. Und woher hat er dafür das nötige Kapital? „Ich hab einen Freund, den hab ich im Lazarett kennengelernt. Der studiert Nationalökonomie. Und der hat einen Investitionskreis gegründet. Da kann man sich auch mit wenig Geld beteiligen. Weil im Moment die Börse steigt, kann man da verdienen“.

Und weil die Inflation weiter zunehmen würde, meint Rattler, würde der Staat langfristig seine Schulden bei den Bürgern wieder weginflationieren. Die Diskussion zwischen erfahrenen Altvorderen und dem jungen Assi kreist natürlich auch um die Unerfahrenheit des jungen Dachses: „An der Börse … Noch nicht trocken hinter den Ohren, aber uns die Ökonomie erklären.“ – „Ja, meinetwegen bin ich feucht hinter den Ohren“, fuhr Rattler auf. „Aber heutzutag sind die Jungen den Alten voraus. Die ham wegen dem Krieg noch nix gelernt gehabt, also ham sie auch nix vergessen müssen. Nur wer mental nicht an die Vergangenheit gebunden ist, sagt mein Freund, kann sich in der neuen Zeit behaupten.“

Einblicke in heute kaum noch bekannte konfliktträchtige politische  Episoden

Wer sich verblüfft die Augen reibt, weil hier im München von 1920 offenbar schon über eine Vorform renditeträchtiger Start-ups diskutiert wird, kann auch miterleben, wie souverän in Reitmeyers zweitem Fall nach dem apokalyptischen Weltkriegstrauma der Generationskonflikt und das Eintauchen in eine „Neue Zeit“ behandelt wird. Die Suche nach dem Frauenmörder erstreckt sich schließlich auch auf das neue Phänomen der Privatbordelle: Die werden als Feten in gutbürgerlichem Milieu organisiert, wo sich  junge Frauen dann  für ein paar Mark auf den Verkehr mit Männern einlassen, um sich irgendwie über Wasser zu halten.

In diesem Umfeld bewegt sich, wie Kommissär Reitmeyer  auch, die aus Berlin stammende Gerti, die eigentlich eine Dissertation über die Lage arbeitender Frauen anfertigen will, jetzt aber ihre in München abgetauchte Schwester sucht. Als ihre Wege sich kreuzen, nehmen die Ermittlungen Fahrt auf. Bis dahin absolviert Reitmeyer doch enorm umständliche Erkundungstrips durch dunkle Hinterhöfe, billige Kaschemmen und in die Vorstandsetage einer Filmproduktionsfirma, ohne überzeugende Resultate vorweisen zu können. Die zahlreichen „red herrings“, die bei Reitmeyers Recherchen verstreut werden, dürften bei der endgültigen Lösung des Falls längst verdorben und ungenießbar sein.

fellenda-sommer-46713Aber was soll’s:  Für den mitunter etwas schleppend verlaufenden Plot entschädigen die faszinierenden Charaktere, der  zwar deprimierende, aber spannende historische Hintergrund sowie die gelungenen Dialoge. Dies ist eben kein dröger „History-Mystery-Schinken“, sondern ein gelungener Krimi mit Einblicken in heute kaum noch bekannte konfliktträchtige politische Episoden. Man kann sich auch gut George Orwell („Down and Out in London and Paris“) bei seinen Recherchen in diesem Ambiente vorstellen.

Ihr Erfolgsrezept hatte die Münchener Übersetzerin/Autorin Angelika Felenda ja auch schon in ihrem ersten Reitmeyer- Band „Der Eiserne Sommer“ mit beeindruckender Souveränität angewendet. Da hatte der Kommissär zu Beginn des 1. Weltkriegs einen heiklen Mordfall unter homosexuellen Offizieren aufzuklären. Die Aktivitäten dieses wunderbaren Duos Reitmeyer-Rattler würde ich jedenfalls gern in den nächsten Felenda-Bänden weiter verfolgen.

Peter Münder

Angelika Felenda: Wintergewitter. Reitmeyers zweiter Fall. Suhrkamp Nova, Berlin 2016. 439 S., 14,95 Euro. Verlagsinformationen.

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