Wie wird man zur Ratte?
Langsam über rote Linien kriechen!
Don Winslows „Corruption“ zeigt eine zur Selbstzerstörung führerende Grenzüberschreitung. Von Peter Münder.
Zu Don Winslows Krimi-Lieblingsklassikern gehören Chester Himes, Robert B. Parker, Raymond Chandler und Elmore Leonard: „Die haben Krimis in Musik verwandelt“, erklärte Winslow jetzt der New York Times. Alle fünf Jahre liest er nochmal Klassiker wie „Krieg und Frieden“ oder „Die Brüder Karamasow“; zu einem Autoren-Dinner würde er auf jeden Fall Shakespeare, Raymond Chandler und George Eliot einladen. Keine Frage: Der 63jährige Winslow hatte schon immer ein großes Faible für Kontraste. Schon als junger Privatdetektiv in New York machte er sich auf die Spur vermisster Jugendlicher, dann war er in Kenia und China Safari-Organisator, studierte anschließend Militärgeschichte, bis er 1991 seinen ersten Roman über den Private Eye Neal Carey veröffentlichte. Starke Kontraste gibt es auch in seinem literarischen Output: Zwischen den Weltbestsellern („Sprache des Feuers“ 1999, „Tage der Toten“ 2005, „Zeit des Zorns“ 2010, „Das Kartell“ 2015) hat er auch extrem verunglückte Romane veröffentlicht, die man eher von einem Anfänger erwartet hätte: Wer noch den Frust und die Enttäuschung über Winslows „Vergeltung“ („Vengeance“, 2014) im Hinterkopf hat, eine als Tom Clancy-Aufguß zubereitete Waffen verherrlichende Rambo-Schmonzette, oder auch die triviale „Germany“-Story (2016), der sollte sich daher hüten, bei der Lektüre von „Corruption“ (O-Titel „The Force“) sofort eine Schublade für „Kampf gegen Drogen-Kartelle“ oder „Trash“ zum Ablegen zu öffnen. Die spannende, facettenreiche Geschichte über den Aufstieg und Fall des New Yorker Task Force Detective Denny Malone kann man jedenfalls nicht so lässig nebenher konsumieren „wie einen Eimer Popcorn“, wie die SZ im letzten Jahr über den dünnen „Germany“-Roman befand.
Alles läuft aus dem Ruder
Denny Malone hat eine schlagkräftige Polizei-Taskforce aufgebaut, die den kriminellen New Yorker Banden das Leben schwer macht. Doch die Einheit setzt sich mit brutaler Gewalt über geltendes Recht hinweg, sie ermordet Drogen-Barone, bunkert gestohlenes Heroin für die eigene finanzielle Absicherung, ist korrupt und kaum noch von den mafiösen Gangs zu unterscheiden. Als Staatsanwälte und die oberste Polizei-Instanz schließlich gegen Malone ermitteln, läuft dem Taskforce-King jedoch alles aus dem Ruder: Man bietet ihm einen Deal an, der ihm Strafmilderung zusichert, wenn er seine an den übelsten Machenschaften beteiligten Kollegen denunziert. Damit wäre er zur „Ratte“ mutiert und als abartig stigmatisiert. Dementsprechend heftig sind Malones höllische Alpträume, als er über das Angebot nachdenkt. Wie kann er dem jahrzehntelangen Knast entgehen? Den gebunkerten Notgroschen für seine Exfrau und die Kinder braucht er dringend, auch an die Familien seiner im Dienst getöteten Kollegen hat er gedacht, dann ist da noch seine drogensüchtige Geliebte usw. … Er hat die rote Linie jedenfalls schon längst überschritten und kommt aus diesem von ihm selbst konstruierten korrupten Protektions-System nicht mehr raus.
Einblicke in den brutalen Alltagsrealismus eines „bent Cop“
Zwischen drastischer Action und der Diskussion über moralische Dilemmata pendelte Winslow ja meistens, wenn es um das Thema Drogen-Kartelle in „Das Kartell“, „Power of the Dog“ oder in „Savages“ ging. Doch so faszinierend beschrieben, mit diesen unter die Haut gehenden Einblicken in den brutalen Alltagsrealismus eines „bent Cop“ hat er diesen Konflikt bisher noch nicht. Das Brüten und Argumentieren des korrupten Malone führt schließlich dazu, dass dieser eigentlich alles rationalisieren kann, was dann auf die simple Schuldzuweisung an „das System“ hinausläuft. Mit dem Tenor: Wir Cops sorgen dafür, dass sich der Dschungel nicht weiter ausbreitet und die braven Bürger gut schlafen können – dafür halten wir den Kopf hin, werden angepöbelt und fertig gemacht – also können wir gelegentlich auch mal etwas vom großen Kuchen abknabbern.
Dass Winslow den Kampf gegen mexikanische und andere Drogen-Kartelle längst für verloren hält und er schon seit Jahren für die Legalisierung von Drogen eintritt, ist ja bekannt. Er kratzt hier aber nicht nur an der Oberfläche und geriert sich auch nicht als Buchhalter, der die Milliarden der Drogen-Mafia zählt, sondern er fragt sich auch, was Millionen von Drogenkonsumenten weltweit kompensieren müssen: Ist das kapitalistische System wirklich so extrem heruntergewirtschaftet und deprimierend? Wollen alle nur noch den großen Kick? Wie wäre es, wenn die Süchtigen den Entzug erfolgreich bewältigen könnten und keinen Stoff mehr wollen?
Türme von Heroinziegeln, Wert 50 Millionen Dollar
Typischer Winslow, brisante „Corruption“- Einstiegsszene: Malone organisiert eine nächtliche Razzia beim Drogen-Boss Diego Pana aus Santo Domingo, der vom mexikanischen Syndikat mit Black Tar Heroin beliefert wird. Das Labor hat er schon den ganzen Sommer über beobachtet, er stürmt mit seiner Truppe über eine Treppe in den zweiten Stock, wo eine Stahltür gesprengt werden muß und der sensible Billy O. von der Feuertreppe aus Blendgranaten durch die zersplitternde Scheibe wirft. Hundefreund Billy zögert aber zu lange, weil er einen angeketteten Kampfhund nicht verletzen will, was ihm zum Verhängnis wird. Malone ist mit einer Sig Sauer P226 und einer Beretta 8000 D Mini-Cougar bewaffnet, ein Messer hat er am Schienbein stecken. Sie stürmen an den mit Dollars und Heroinziegeln beladenen Labor-Tisch. O-Ton Winslow:
„Malone besichtigt das Heroin. Ganze Türme davon. Gepresste Ziegel, eingeschweißt in schwarze Folie. Das reicht, um die ganze City für Wochen ins Nirwana zu schicken. „Sparen Sie sich das Zählen“, sagt Pena. „Das ist „Dark Horse“, mexikanisches Black Tar Heroin. Siebzig Kilo, fünfzig Millionen Dollar Verkaufswert. Dazu etwas über vier Millionen Dollar Bargeld. Sie nehmen das Geld und die Drogen, ich nehme den nächsten Flug nach Santo Domingo. Sie sehen mich nie wieder.“ Mach kurzen Prozess, denkt Malone. „Gib die Waffe raus. Langsam“, sagt er. Pena greift betont langsam in sein Jackett, um die Pistole abzuliefern. Malone schießt ihm zweimal ins Herz.“
Der „Kodex Malone“: „Mach kurzen Prozeß“
Als „King of Manhattan“ hat Malone einen Größenwahn entwickelt, der ihn über profane Gesetze und kleinliche Vorschriften erhaben macht. Er kann nicht einsehen, dass er vor der Festnahme von Drogendealern, Mördern oder Kinderschändern erbsenzählerisch jede Nuance irgendwelcher Paragraphen beachten soll – also hat er seinen eigenen „Kodex Malone“ internalisiert, der da lautet: „Mach kurzen Prozeß“. Mit seinem Kollegen Russo sinniert er später darüber, wie es überhaupt zum Überschreiten der roten Linie kommen konnte: „Schritt für Schritt“, sagt Malone. „Wir waren mal gute Cops. Früher. Dann … ich weiß nicht … aber wir haben zwanzig Kilo Heroin in Verkehr gebracht, auf unserem eigenen Gebiet. Das hätten wir früher nicht gemacht. Das ist das genaue Gegenteil von dem, was wir früher gemacht haben. Das ist wie ein Streichholz, das du anzündest, weil du denkst, es ist nicht weiter gefährlich. Dann dreht sich der Wind, und es wird ein Feuer draus, das alles vernichtet, was dir wertvoll und heilig ist“.
Sein selbstgerechtes Moralisieren blendet Gier, Rachsucht und den eigenen Größenwahn einfach aus – vor dem Panorama einer ungerechten Welt lässt sich dann doch fast alles rechtfertigen: „Wenn die Welt gerecht wäre, wäre auch er gerecht. Aber die Karten sind ungleich verteilt, das Oberste Gericht hat die Rechte der Beklagten gestärkt, Ankläger und Cops haben das Nachsehen“- das ist der Punkt für Malone.
Vor dem Hintergrund diverser polizeilicher Übergriffe gegen unschuldige Schwarze und etlicher Korruptionsaffären hört sich das sicher zynisch an. Winslow gelingt es aber grandios, uns in dieses Cop-Milieu so intensiv eintauchen zu lassen, dass wir diesen Sog trotz aller hyper-realistisch geschilderten Brutalitäten sogar irgendwie genießen können: Malones dubioses Königreich, die um ihn herum gruppierten Typen, das kaum weniger korrupte Police-Establishment sind ebenso eindrucksvoll beschrieben wie das Revier der Task Force. Die überdrehten Aktionen des egomanischen Malone seziert Winslow mit einem akribischen, analytischen Blick und liefert so Schicht um Schicht ein schlüssiges Psychogramm, das auch den in den USA gerade so In Mode gekommenen plumpen „Making Great Again“-Größenwahn erfassen würde. Irritierend sind allerdings kommentierende Passagen, deren Ambivalenz irgendwo zwischen Spekulation, Reiseführer-Fußnote oder innerem Monolog herumwabern. Das ändert aber nichts daran, dass „Corruption“ wohl der beste Thriller von Winslow ist. Den Popcorn-Eimer kann man bei der Lektüre jedenfalls getrost vergessen.
Peter Münder
Don Winslow: Corruption (The Force, 2017). Aus dem Amerikanischen von Chris Hirte. Droemer 2017, 541 Seiten, 22,99 Euro.