Der Sonderermittler als medienwirksamer Selbstdarsteller: Wenn die Inzenierung wichtiger ist als die Aufklärung
In Donato Carrisis „Nebelmann“ geht es zwar um das mysteriöse Verschwinden eines jungen Mädchens, doch Carrisi liefert auch eine fulminante Kritik an einer medial inszenierten Kampagne, die den profilneurotischen Sonderermittler Vogel als prominenten Star verklären soll. Von Peter Münder
Als der Psychiater Flores nach Mitternacht mobilisiert wird, um einen Unfallfahrer im Krankenhaus zu verhören, der sich an nichts erinnern kann, ahnt er schon, dass dieser Fall ebenso komplex wie rätselhaft ist. Vor allem auch, weil die ermittelnde Staatsanwältin vermutet, dass der Fahrer mit dem blutbefleckten Hemd vielleicht nur ein Simulant ist. Es ist der mit aufsehenerregenden TV-Auftritten zum Promi avancierte Sonderermittler Vogel. So beginnt der Rückblick auf eine Episode, die das verschlafene Dolomiten-Nest Avechot nach dem Verschwinden der 16jährigen Anna Lou in Angst und Verzweiflung stürzte. Denn dreißig Jahre zuvor waren in der Umgebung mehrere Kinder verschwunden. Hat der als „Nebelmann“ bekannt gewordene Mörder nun etwa das Mädchen entführt, um ein hohes Lösegeld von den Eltern zu erpressen?
Der in Rom lebende Donato Carrisi, 44, Kriminologe und Drehbuchautor, hatte schon mit seinem in 24 Sprachen übersetzten Thriller „Der Todesflüsterer“ gezeigt, dass er einen Kokon aus dichtem Lokalkolorit, überzeugenden Psychogrammen und spannender Action spinnen kann, in den der Leser mit Hochgenuß tief eintaucht. Irgendwo zwischen Dürrenmatts klassischer „Panne“ und einem mörderischen PJ Tracy-Thriller ist auch diese Studie eines leicht manipulierbaren Soziotops angesiedelt. Mit dem scharfsinnigen Gespür eines Anthropologen charakterisiert Carrisi das gegen die Außenwelt aufgebaute Mißtrauen einer kleinen christlichen Sekte, zu der die Familie der entführten Anna Lou gehört. Er zeigt, wie der gerade erst zugezogene Lehrer Martini, der sich um Anna Lou gekümmert hatte, plötzlich zum verdächtigen Außenseiter mutieren kann, wenn der vom eitlen Vogel mobilisierte Medienzirkus mit TV-Sondersendungen und alarmierenden Zeitungsberichten erst einmal auf Hochtouren läuft: Das altvertraute Hammett-Motto „Nichts ist, wie es scheint“ wird hier aufs Schönste bestätigt. Und wie sich Vogels vermeintlich unbedarfter Sidekick, der tatsächlich hellwache Borghi, vom verachteten Statisten zum kritischen Analytiker entwickelt, das ist auch beeindruckend. Hammerhart und grandios dann dieser überraschende Schluß: Carrisi at his best; in der Top Liga der Thriller-Meister hat er sich jedenfalls fest etabliert.
Peter Münder
Donato Carrisi: Der Nebelmann. Aus dem Italienischen von Karin Diemerling. Atrium, Zürich 2017. 336 Seiten, 20,- Euro