Geschrieben am 3. Oktober 2015 von für Bücher, Litmag, News

Roman: Jenny Erpenbeck: Gehen, ging, gegangen

Erpenbeck_gehenDie Geschichten der Geflüchteten

In ihrem Roman „Gehen, ging, gegangen“ lässt Jenny Erpenbeck einen emeritierten Professor in Berlin auf Flüchtlinge aus Afrika treffen – und nutzt diese Gelegenheit, um deren Geschichten zu erzählen. Von Ulrich Noller

Richard war Altphilologe, ein anerkannter Experte für die Sprachen des antiken Rom und Athen also – zunächst in der DDR, später als Beamter der BRD. Er wurde vor nicht allzu langer Zeit in den Ruhestand verabschiedet, seine Frau ist schon gestorben, die junge Geliebte längst aus seinem Leben verschwunden. Kinder hat er nicht, dafür jede Menge Zeit. Zeit, die Richard zwar etwas irritiert, aber nicht groß verunsichert. Er wird lesen, lesen, lesen und sich um’s Haus am See am Berliner Stadtrand kümmern und schauen, was das Leben im Ruhestand so bringt.

Spontane Neugier

Was das Leben bringt für Richard: Raschid, Ithemba, Awad, Osarobo und noch ein paar andere geflüchtete Männer aus verschiedenen afrikanischen Ländern (Ghana, Niger, Nigeria, Libyen), die es nach Berlin verschlagen hat. Sie haben für ein freies Aufenthaltsrecht demonstriert und für ein Recht auf Arbeit, nun leben sie vorübergehend in einem ehemaligen Altenheim, bis die Ausländerbehörde entschieden haben wird, wie man mit ihnen weiter verfährt. Ohne konkreten Grund, mehr einem Impuls, einer Neugier folgend, besucht Richard das Heim. Er gibt vor, eine Forschungsarbeit über die Geschichten der Geflüchteten schreiben zu wollen. Er spricht mit ihnen, mit Raschid zunächst, er kommt immer wieder, schließlich wird er selbst fast heimisch in der Einrichtung, hilft bei Behördengängen, gibt Deutschunterricht, lädt den einen oder anderen zu sich nach Hause ein. Und er wird zu einem Experten in Sachen Asyl- und Aufenthaltsrecht, dessen Formulierungen wohl kein Geflüchteter je verstehen kann, wenn sie selbst einen gestandenen Altphilologen zur Verzweiflung bringen.

Richard und seine vorsichtige, fast tapsende Näherung eines Wohlstandsbürgers an die Männer in der Notunterkunft, das ist die eine Ebene des Romans „Gehen, ging, gegangen“ und zugleich der Rahmen für sein Zentrum: die Lebens- und Fluchtgeschichten der Männer aus Afrika. Jenny Erpenbeck hat sie, das belegt der Anhang, recherchiert. Es handelt sich also um dokumentarische Geschichten, die lediglich literarisch bearbeitet sind. Sie führten meist übers Mittelmeer nach Lampedusa und von Italien aus irgendwie nach Deutschland und Berlin. Sie haben verschiedene Auslöser: Terror, Unterdrückung, Bomben, aber auch die schiere wirtschaftliche Not. Jede war eine unglaubliche Odyssee, so wie die berühmte Reise, die der griechische Dichter Homer vor 2800 Jahren in Dichtung verwandelt hat. Eine Parallele, die für den Altphilologen augenscheinlich ist.

Gegenseitige Integration

Diesem Roman wurde vorgeworfen, er blicke von Oben auf die geflüchteten Exoten, Richard habe mitunter fast einen „kolonialen Blick“ auf die Männer. Tatsächlich ist das unabdingbar und Teil des Konzepts von „Gehen, ging, gegangen“: Richard, der noch nie etwas mit Migration zu tun hatte, nähert sich der Realität der Flüchtlinge – wenn man so will: stellvertretend für die Mitte der Gesellschaft – indem er die Komplexität ihrer Geschichten zu verstehen versucht. Richard muss lernen, um verstehen zu können. Und er kann irgendwann verstehen, weil er sich neugierig lernend geöffnet hat. Man könnte dazu auch sagen: gegenseitige Integration.

Die Schicksale von Raschid, Ithemba, Awad, Osarobo und den anderen aber – unfassbare, unglaubliche, erschütternde Geschichten. Geschichten, die, wie man so sagt, das Leben schrieb; Geschichten, wie sie fast jeder der Flüchtlinge, die jetzt in Massen kommen, ebenfalls berichten könnte. Es braucht einen Roman wie „Gehen, ging, gegangen“, um ihrer Komplexität gerecht zu werden. Und wenn man diesen Roman gelesen hat, wird einem noch mal ganz anders klar, vor welch ungeheurer Herausforderung die Gesellschaft jenseits von „aktuellen“ Themen wie Verteilung oder Erstunterbringung jetzt steht.

Ulrich Noller

Jenny Erpenbeck: Gehen, ging, gegangen. Roman. Knaus, 2015. 352 Seiten. 19,99 Euro.

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