Die Gesellschaft als Kaleidoskop
– Seit mehr als zwei Jahrzehnten warten die deutschen Kritiker nun auf den großen Gesellschaftsroman des wiedervereinigten Deutschlands. Mehr oder weniger gelungene Wenderomane gibt es mittlerweile zuhauf von männlichen ostdeutschen Autoren wie Ingo Schulze („Simple Storys“), Thomas Brussig („Helden wie wir“), Uwe Tellkamp („Der Turm“) oder Lutz Seiler („Kruso“). Als westdeutscher Gross-Autor musste Günther Grass 1995 für seinen in die gesamtdeutsche Geschichte eingebetteten Wenderoman „Ein weites Feld“ heftige Kritik insbesondere von Kritikerpapst Marcel Reich-Ranicki einstecken. Nun tritt die 1974 in Bonn geborene Juli Zeh in der, wie sie selber sagt „literarischen Königsdisziplin“ des Gesellschaftsromans an, um „den Zeitgeist und die Befindlichkeit einer ganzen Epoche in einen Roman hineinzuerzählen.“ Von Karsten Herrmann
Schauplatz des Romans mit dem doppeldeutigen Titel „Unterleuten“ ist dabei nicht die Wende und Einheit symbolisierende Metropole Berlin, sondern ein kleines Dorf auf dem platten Land in Brandenburg.
Juli Zeh stellt dem Leser in ihrem Roman zunächst ein facettenreiches Tableau der Alteingesessen und Neuzugezogenen in Unterleuten vor: Da sind die frisch gebackenen Eltern Jule und Gerhard, die aus Berlin kommen und sich an der Uni kennen lernten. Der Soziologie-Professor und politische Aktivist war dort auf der Karriereleiter stecken geblieben und verliebte sich in seine Studentin Jule, die eine Promotion über die „destruktiven Auswirkungen des kapitalistischen Glücksversprechens“ schrieb. In Unterleuten engagiert Gerhard sich als Vogelschützer, doch außer ihm „schien niemand mehr zu glauben, dass Glück im gemeinsamen Kampf für eine gute Sache liege.“
Ebenfalls aus Berlin zugezogen sind der Spiele-Programmierer Frederik und Linda, eine Pferde- und Menschenflüsterin, die von einer eigenen Pferdezucht träumt und konsequent der manipulativen Machtphilosophie des (realen) Bestsellers „Dein Erfolg“ von Manfred Gortz folgt.
Platzhirsch in Unterleuten ist „der fette Hund“ Gombrowski, dessen Eltern als Großgrundbesitzer in der DDR enteignet wurden, der die daraus entstehende LPG Jahrzehnte leitete und nach der Wende zu einem riesigen Biobetrieb umwandelte. Sein Gegenspieler ist der verbitterte Kron, der den alten Zeiten hinterher hängt und als scharfer Kritiker des entfesselten Kapitalismus und Neoliberalismus auftritt: „Freiheit war der Name eines Systems, in dem sich der Mensch als Manager der eigene Biographie gerierte […]. Der Kapitalismus hatte Gemeinsinn in Egoismus und Eigensinn in Anpassungsfähigkeit verwandelt.“
Das lange Zeit trotz aller Rivalitäten und Missgunst fein ausjustierte Dorfgefüge in Unterleuten droht außer Kontrolle zu raten, als eine Investmentfirma hier einen Windpark errichten will und das große Geld lockt. Ein alter Todesfall wird neu aufgerollt, ein Kind verschwindet und es wird gepokert, getrickst, denunziert und demoliert.
Nichts, was das Innerstes zusammenhält
Juli Zeh ist nicht nur eine der erfolgreichsten, sondern auch eine der politisch aktivsten deutschen SchriftstellerInnen und die TAZ bezeichnete sie schon etwas süffisant „als Jeanne d’Arc des digitalen Zeitalters.“ Über zehn Jahre wohnte sie in Leipzig, bevor sie mit ihrer Familie in ein kleines Dorf in Brandenburg zog und dort reichlich Stoff für ihren aktuellen Roman sammeln konnte.
Auf vielstimmige Weise verquickt sie so in „Unterleuten“ auch die Mikrosoziologie eines Dorfes mit der politisch-kulturellen Makroebene – mit der Wende, dem Kapitalismus, der Finanzkrise, mit Techno, Internet und virtueller Realität. Ihr Roman entwickelt sich dabei von einem eher intellektuellen Thesenroman, in dem die Figuren stark als Träger von (zeitkritischen) Botschaften und als exemplarische Typen fungieren, hin zu einem fast süffigen und spannenden Drama voller psychologischer Ver- und Entwicklungen und einem diabolischen Finale.
Julie Zehs Zeitdiagnose fällt letztlich düster aus: Anhand eines dörflichen Paralleluniversum zeigt sie auf, dass die Gesellschaft offenbar keinen Stoff mehr hat, der ihr Innerstes zusammenhält – keine Autorität, keine Moral, keine Norm. Die Frage von Recht und Unrecht, Gut und Böse, Täter und Opfer wird so wie in einem bunten Kaleidoskop zu einer Frage der Perspektive: „Man dreht ein wenig und alles sieht anders aus.“
Karsten Herrmann
Julie Zeh: Unterleuten. Roman. Luchterhand, 2016. 640 Seiten. 24,99 Euro.