Wie sie die Saat legten …
Mit der Kapitulation Nazi-Deutschlands im Frühjahr 1945 wandelten sich sämtliche Nationalsozialisten zu lupenreinen Demokraten. Weiß man ja. Andernfalls hätten die Alliierten die gesamte Bevölkerung ausgetauscht, oder? Einigen muss dieses Kunststück nicht geglückt sein. Sie nahmen die „Rattenlinien“ durch die Alpen, um weiterzuziehen und eine Passage nach Argentinien zu ergattern. „Die Akte Odessa“ von Frederick Forsyth hat das Thema 1972 zum internationalen Bestseller-Stoff gemacht. Jetzt nimmt Martin von Arndts Roman das Thema wieder auf, erzählt von den Ratten, von denen, die sie unterstützen und denen, die sie jagten. Anne Kuhlmeyer hat ihn gelesen und ist sehr angetan.
In Martin von Arndts neustem Roman, der an „Tage der Nemesis“ (hier bei CrimeMag) anknüpft, kehrt Andreas Eckart – Überlebender des Ersten Weltkriegs, Kriminalkommissar in der Weimarer Republik, Persona non grata bei den Nazis, Exilant – aus Washington ins eisige Nachkriegsdeutschland zurück. Oder vielmehr wird er von seinem Freund Liam, der ihn einst vor Gestapoknast und Folter rettete, zur Reise gedrängt, denn Liam mag Eckarts Rückzug ins Private nicht länger zuschauen.
War Eckart während der 1920er Jahre für die neue Demokratie ein- und dem erstarkenden Nationalsozialismus entgegengetreten, sind ihm im „cleanen“ Washington Motiv und Ziel seines Lebens abhanden gekommen. Antriebslos wurschtelt er sich durch seine Übersetzungen von Büchern, die keinen interessieren. Als er jedoch vom US-Geheimdienst CIC beauftragt wird, seinen ehemaligen Assistenten Wagner aufzuspüren und der Justiz zu zuführen, ist das Interesse des sechzigjährigen „Nazifressers“ geweckt. Sein Auftrag ist es, Wagner zu erkennen, falls das „Greiferkommando“, dem der Special-Agent Dan Vanuzzi angehört, den Nazischergen ausfindig machen kann.
Die Männer, als Mitarbeiter des Roten Kreuzes getarnt, treffen in einem Dorf in Südtirol auf das Misstrauen der Einheimischen, der französischen Besatzer und nicht zuletzt auf ihr gegenseitiges. Wem kann man schon trauen im diesem hungrigen Winter 1946? Während Eckart und Vanuzzi Flüchtenden jeglicher Herkunft samt ihrer Bergführer im Eisnebel auflauern, verteilt das Rote Kreuz Personaldokumente an irgendwie alle, die welche begehren. Unmöglich den Menschenmassen, die auf der Suche nach einem Ort abseits von Hunger und Trümmern unterwegs sind, verwaltungstechnisch beizukommen. In den Bergen geht Wagner ihnen durch die Lappen, hinterlässt aber seine Tötungstechnik – Gift in die große Halsvene – an einem Mann, den Eckart schon in Berlin nicht ohne Druck wegen dessen sexueller Orientierung als Informant einsetzte und in der Bergen wiedertraf.
Der Tod des Mannes befeuert Eckarts Rachewunsch. Er und Vanuzzi verfolgen Wagner nach Meran und quer durch Italien, nur um ihn immer wieder entwischen zu sehen. Als sich die Agenten des CIC mit Rosenberg zusammentun, der als Jude im Untergrund überlebte, und sich endlich einander anvertrauen, entdecken sie die Machenschaften des Vatikan, des Roten Kreuzes und des CIC, deren antisowjetische Koalition ihren Einfluss in Westeuropa sichern soll.
Martin von Arndt entwickelt einen spannenden Plot mit überraschenden Volten, der nie an Stringenz verliert. Angesichts der Verwicklungen staatlicher und kirchlicher Institutionen grundiert mit historischen Fakten, die der Autor didaxefrei präsentiert, mit der Massenflucht von Kriegsverbrechern nach Südamerika erscheint der eigene Blick auf die Nachkriegszeit beinahe naiv. Waren wir hier im Westen nicht immer der Überzeugung, die Amis seien die Guten?
Nach der Lektüre dieses in kontrastreichen Bildern erzählten Romans darf man das getrost bezweifeln, Kategorien wie gut und böse sind darin nicht enthalten. Stattdessen glänzt er mit knackigen Dialogen, facettenreichen Figuren und fundiertem Hintergrundwissen. Es scheint, als habe Martin von Arndt die Möglichkeiten des Genres und seine Seriosität entdeckt, während in „Tage der Nemesis“ bei aller Virtuosität noch ein Vorbehalt mitgeschwungen ist. Zum Schluss werden nicht alle Erzählfäden festgezurrt, was auf ein Wiedersehen mit Andreas Eckart, dem Nazifresser, hoffen lässt. Er könnte noch bis in die 1960er ermitteln mit all seinem Wissen über Ideologien, Gewalt und deren Grundlagen – dem Streben nach Land und Macht. Zu tun hätte er bis heute genug.
Anne Kuhlmeyer
Martin von Arndt, Rattenlinien, Kriminalroman, ars vivendi Cadolzburg 2016, 301 S., 19,00 Euro