Geschrieben am 15. August 2016 von für Bücher, Crimemag

Roman: Till Raether: Fallwind

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Stürmische Nordseewinde sorgen für Turbulenzen, gefundene Leichen stiften Verwirrung: In Till Raethers drittem Krimi „Fallwind“ soll der Hamburger Kommissar Danowski im Nordsee- Ferienort Friederikenburg helfen, den Tod von zwei Frauen aufzuklären. Und im Hintergrund rotieren die Windräder des Energiekonzerns Silventia. Von Peter Münder

Adam Danowski ist zwar hypersensibel, aber auch renitent. Die auf ihn zugeschnittenen Therapieversuche mit Meditationskurs und Selbsthilfegruppe sind völlig zwecklos, weil er sie gar nicht besucht. Immerhin hatte er von einer Psychoberaterin mal aufgeschnappt, dass entweder irgendein Objekt, etwa eine Grünpflanze, oder eine Bezugsperson als Beruhigungs-„Anker“ helfen könnte, seine labile Disposition zu festigen und seine enormen Konzentrationsschwächen bei Fortbildungskursen zum Crime Mapping zu beseitigen. Also entschied sich Danowski  für den mütterlichen Anker, obwohl seine Mutter schon verstorben war, als er zwölf war. Wenn Danowski hilflos in eine Ecke starrt und nicht weiter weiß, dann hockt sie dort als imaginierter Psycho-Anker  und hat für ihn Kalenderweisheiten, Plattitüden und dämliche Fragen in ihrem Binsen-Repertoire parat.

Aber hier an der Nordseeküste – „am Deicharsch“ nennt es sein Freund und Kollege Finzi, der ihn hier besucht – ist der Hamburger doch ziemlich verunsichert und lässt sich  mit banalen Mutti-Floskeln ruhig stellen, anstatt einfach nur zu Baldriantropfen zu greifen. Mit penetranter Häufigkeit taucht dieser Anker auf, was bedeuten soll: Es handelt sich um eine Obsession mit geradezu sedierender Wirkung, an die sich  Danowski  klammert.  Seine Mutter starb unter merkwürdigen Umständen, die ihm als Zwölfjährigem damals nie erklärt worden waren und einen echten Trauerprozeß verhinderten – war es etwa Selbstmord? Hier deutet sich schon an, dass Raether gründlicher sondieren will und seine Psychogramme als Tiefenbohrungen mit ironischer Grundierung anlegt. Hinter Danowskis Mutti-Masche steckt neben seiner  massiven Traumatisierung offenbar auch seine gestörte Vater-Beziehung. Hier braut sich ein brisanter Psycho-Mix zusammen.

Keine Frage: Der ehemalige Brigitte-Redakteur Raether, 47, hat ein gutes Gespür für spannende Themen. Und er möchte möglichst viele Bereiche miteinander verknüpfen, um komplexe Zusammenhänge zu eruieren:  Die Industrialisierung ländlicher Regionen, Auflösung tradierter Normen und Erodierung familiärer Strukturen sind nur einige davon. Aber wie soll für die davon Betroffenen das Umparken im Kopf funktionieren ?

Danowskis Umgang mit den unflexiblen, herben Friesen ist trotz seines Handicaps ziemlich souverän: Er kann sich wunderbar in ihre verqueren Gedankengänge, in ihre Vorliebe für rhetorische Ausweichmanöver und mundfaule Querköpfigkeit hineinversetzen. Was er nicht verträgt, ist das umständliche Getue in seinem piefigen Hotel, das sich zwar den prestigeträchtigen Namen „Brinkman´s North Sea Haus Schröder“ gegeben hat, in dem man aber Anstoß an seinem Körpergeruch nimmt, weil er nach anstrengender Nachtschicht ungeduscht zum Frühstück erscheint.

Beim Gespräch mit Zeugen und den Eltern der ermordeten beiden jungen Frauen ist Danowskis Hypersensibilität sogar ein Vorteil: Er spürt genau, wann ihm wichtige Details vorenthalten oder unangenehme Aspekte geschönt präsentiert werden. Mit seiner Anordnung eines Massen-Gentests sorgt er zwar für gehörige Irritationen und Unruhe am Deich, doch Kritik an dieser Maßnahme kann er einfach ignorieren.

Auch in „Treibland“ und „Blutapfel“ kam der sensible Hamburger Kommissar  in kritischen Situationen ja ganz gut über die Runden: Das Bürokraten-Mobbing im Ärmelschoner-Silo konnte ihn bei seinen Ermittlungen auf dem im Hafen unter Quarantäne liegenden Seuchenschiff  zwar nerven, er steckte das aber einfach weg. Und die undurchsichtigen Mordfälle im Elbtunnel oder die freakigen Aktionen in  leerstehenden Bauten („Blutapfel“) nebst Intervention ausländischer Geheimdienste  waren eher exotische Abenteuer für ihn. Nun ist Danowski also „externer Dienstleister“  und als Akten-Analytiker bei der operativen Fallanalyse für die überforderte Polizei im  Deichmarsch-Nest Friederikenburg abgestellt. Den Tod von zwei Frauen, deren strangulierte Körper am Leuchtturm gefunden wurden, soll er hier aufklären.

Fabelhaftes Friesen-Panorama

„Fallwind“ ist die Geschichte vom Geheimnis der drei Leuchtturmkinder Stephanie, Corinna und Imka, die um 1994 mit dreizehn Jahren von ihrer abgelegenen Hallig Kellum aufs Festland nach Friederikenburg zu einer Gastfamilie zogen, um dort das Gymnasium zu besuchen. Der Leuchtturm war für die damals stark unter Heimweh leidenden Mädchen ein emotional stark besetzter Anlaufpunkt, an dem sie sich  ausweinen und trösten konnten. Dieser Turm war  gerade noch von ihrer Insel aus zu sehen  gewesen und die Mädchen suggerierten sich damals, ihre Eltern würden den Turm als eine Art Verbindungssignal zu ihnen verstehen und ihre Treffen dort  beobachten können. Damals war das Trio eine eng befreundete Clique,  daran änderte sich auch nichts nach dem Abi und als sie Angestellte beim Windkraft-Unternehmen oder der Raiffeisenbank wurden.

Weil  Ludger, der ein Jahr jüngere Sohn der Gasteltern, damals auch mit den Mädchen  zusammen wohnte und es mit ihm offenbar Probleme gab, wie Danowski aus alten Tagebüchern und Unterlagen der Mädchen erfährt, führt die Spur zur Aufklärung dieser Fälle  zurück in die Vergangenheit. Hatten die Mädchen den unbeholfenen und eher beschränkten Ludger damals zu sehr gekränkt und gemobbt, so dass er sich nach so langer Zeit immer noch an ihnen rächen wollte? Und was ist mit der anderen Spur, die zum Silventia- Ingenieur Sven Schlohn führt, der anscheinend kreative Buchführung betrieb und Gelder von einem Stiftungskonto für Anlagespekulationen abzog ? Wird der von einem Insider erpresst?

Scherz, Satire, Hysterie

Mitten in seinen Ermittlungen wird Danowski überfallen, bei ihm reißt der Faden, dann findet er sich plötzlich neben Imke in einer Windkraftgondel wieder, aus der er keinen Kontakt zur Umwelt aufnehmen kann. Erst nach zwei Tagen fällt sein Verschwinden auf, dann ist sogar der sonst so stoische Freund Finzi besorgt, dieser ominöse Halbitaliener. Der ist  inzwischen trocken und begeistert bei der Hamburger Fahrradstaffel tätig. Sein neues Dienstrad hat Danowski allerdings schon beim ersten „Fallwind“-Auftritt zu Schrott gefahren: Er ist  nicht der einzige, der hier aus der Bahn getragen wird.

Scherz, Satire und Hysterie liegen in den Raether-Krimis eng beieinander: Das Biotop muss zum Kochen gebracht werden, Extremsituationen werden ausgelotet, um den wahren Charakter hinter den Schönwetter-Fassade erkennen zu können. Bis zur Beinah-Katastrophe beim überhaupt nicht idyllischen Wattfest absolvieren die meisten Figuren Gratwanderungen zwischen Zirkus-Komik, Vereinsamung und depressiver Isolation.

Stärker könnten die Kontraste zu den ersten beiden Raether-Krimis kaum sein: Butzenscheiben und Friesenstuben-Ambiente statt Großstadt-Revier, Wattfest mit Selbstgebackenem statt Reeperbahn, pinkelnde Schafe am Deich (die den ermittelnden Danowski behindern) statt Staus im Elbtunnel. Vor dem Haus der Gasteltern, die damals die Inselmädchen aufgenommen hatten, geht es Danbowski angesichts der spießigen Butzenscheiben durch den Kopf: „Butzenscheiben gehörten für ihn in den Schwarzwald oder zu Restaurants, in die man nur mit zusammengebissenen Zähnen ging“.

Wie Raether in seinem Nachwort erklärt, hat er dieses von einer neu angesiedelten Windkraft-Firma durcheinander gewirbelte Friesen-Ambiente bei Nordenham hinterm Deich bei einer Lesung gut kennengelernt. Diesen Culture-Clash zwischen beschaulicher Flachland-Lethargie und kühler Hi-Tech-Effizienz hat Raether mit originellen Figuren und spritzigen, streckenweise auch tiefgründigen Dialogen besetzt. Schwachpunkte sind allerdings die redundanten Schleifen, in denen das Phantom der Mutter immer wieder und ausführlich bemüht wird. Und beim Eintauchen in emotionale Turbulenzen, jugendliche Schwärmereien und Isolations-Ängste treibt es diesen Erzähler der Extraklasse dann doch zu sehr in epische Breiten, in denen er detailverliebt oder überambitioniert  hängen bleibt. „Es muss doch mehr  als alles  beschrieben und erklärt werden“, scheint Raethers Motto zu sein. Diesen hohen Anspruch teilt er mit seinem Anti-Helden Danowski. In „Fallwind“ wird nichts gefällig glattgebürstet; das Unterlaufen gängiger Erwartungshaltungen ist ja Raethers Spezial-Disziplin. Das macht diesen Krimi  lesenswert und diesen Erzähler so sympathisch.

Peter Münder

Till Raether: Fallwind. Roman. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Polaris 2016, 478 S., 14,99 Euro.

 

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