Heiligt der Zweck alle Mitten?
Sihem Bensedrine und Omar Mestri attackieren den „Übergang zur Demokratie” in den Maghreb-Staaten.
Wurde mal wieder ‚der Bock zum Gärtner gemacht?’ Ausgerechnet in Tunesien findet ab dem 17. November der UN-Gipfel über die Freiheit der Medien und den ungehinderten weltweiten Informationsaustausch statt. Weit und breit ist etwa von den in Mitteleuropa geltenden Standards an Presse- und Meinungsfreiheit in Tunesien nichts zu spüren. Zwar verweist die Regierung Ben Ali unentwegt auf ihr Grundgesetz, nach dem jeder Bürger des Landes sagen und schreiben kann, was er will, aber die Wirklichkeit sieht leider anders aus. Man muß dazu nur einmal die regelmäßigen Tunesien-Dossiers von ‚amnesty international’ oder der ‚Reporter ohne Grenzen’ lesen. Es existieren viele Tageszeitungen, die aber fast alle in offener oder indirekter Abhängigkeit zur Regierung von Ben Ali stehen. Im staatlichen Fernsehen ist Kritik an gesellschaftlichen Missständen nur so lange gestattet, wie sie nicht grundsätzlich das Patronage-System des herrschenden Clans infragestellt. Der Internet-Journalismus ist schwer kontrollierbar, aber auch hier wird mit allen Tricks, einschließlich der Androhung von Gewalt, Protest zu unterbinden versucht. Wahlen nach westlichem Demokratie-Verständnis gibt es nicht. Und ausgerechnet in diesem Land findet nun eine Weltkonferenz statt, die eine uneingeschränkte Meinungsfreiheit benötigt wie die Fische das Wasser. Man könnte diese Veranstaltung als Hohn interpretieren, aber vielleicht ist dies auch eine ganz besondere Chance. Im Schutz der zu erwartenden vielen Kameras und Mikrophone haben oppositionelle Intellektuelle und Journalisten die Möglichkeit, auf politische Missstände in Tunesien oder anderen nordafrikanischen Ländern hinzuweisen.
Vielleicht kann man im Rahmen dieser Weltkonferenz auch die Veröffentlichungen der heute vorübergehend in Hamburg lebenden Journalistin Sehim Bensedrine präsentieren. „Despoten vor Europas Haustür”, das jüngste, von ihr und ihrem Mann Omar Mestiri geschriebene Buch, ist in Tunesien nur illegal erhältlich. Diese Attacke auf den in nordafrikanischen Staaten grassierenden Sicherheitswahn läßt an Eindeutigkeit auch nichts zu wünschen übrig. Ohne jede diplomatische Rücksichtnahme nehmen sich die Autoren das Menschenrecht auf Meinungsfreiheit heraus, um die herrschenden Eliten ihrer Heimat anzugreifen.
Hinter der Fassade eines gastfreundlichen und rechtsstaatlichen Tourismuslandes existiert noch ein anderes Tunesien. Hier hat sich aus der Sicht von Bensedrine/ Mestiri ein regelrechter ‚Doppelstaat’ herausgebildet, in dem neben den offiziellen Institutionen wie Regierung, Parlament und Justiz noch parallele Machtstrukturen existieren. „Und die versteckte Seite bildet das wahre Machtzentrum”. Unter dem scheinbar leicht einsehbaren Vorwand, terroristischen Gruppen keine Möglichkeit zu geben, die tunesische Gesellschaft von innen her zu destabiliseren, werden wichtige Menschen- und Freiheitsrechte außer Kraft gesetzt. Selten gab es für die autoritären Herrschaftscliquen in den Ländern „vor Europas Haustür” günstigere geopolitische Rahmenbedingungen als in der Zeit nach dem 11. September 2001. Dem extremen, fundamentalistischen Islam soll der Kampf angesagt werden, auch wenn dabei Menschen- und Bürgerrechte geopfert werden. Sogar eine so radikale Streiterin für die Menschenrechte wie Sehim Bensedrine konzediert den Regierungen ein legitimes Suchen nach einer effektiven Abwehrstrategie gegen Terror und Gewalt. Aber für sie darf der Zweck nicht jedes Mittel rechtfertigen. Despotismus und Willkür bekämpfen letztlich den Terrorismus nicht wirklich, sondern lassen ihn letztlich nur weiter aufblühen. Im Kampf gegen den Terrorismus ist die Achtung der grundlegenden Menschenrechte letztlich viel wirksamer, als es die ‚Fixierung auf Sicherheit’ in all ihren Varianten je sein kann. Die ‚moderaten Islamisten’ müssen in die politische Willensbildung einbezogen werden, statt sie mit fragwürdigen Mitteln daran zu hindern. Da man autoritäre Führungsfiguren wie etwas Ben Ali und deren Hofschranzen wohl kaum von dieser Position überzeugen kann, müssen die demokratischen europäischen Staaten ‚vor der Haustür’ der Despoten endlich ihre diplomatische Reserve aufgeben. Viel, vielleicht sogar zu viel, erhoffen sich die Autoren von den Möglichkeiten einer „kohärenten europäischen Aussenpolitik”, die doch auch vorbildlich die Demokratisierungsprozesse in den ost- und mitteleuropäischen Länder begleitet hätten. im Gegensatz zu den grob geschnitzten us-amerikanischen Strategien gegen die ‚Achsen des Bösen’ oder islamische Weltverschwörungen, könnte „Europa” eine differenziertere Position gegenüber dem Islam einnehmen. Zum Beispiel müßten die demokratischen Bewegungen innerhalb der maghrebinischen Staaten vielmehr in ihrerm Kampf gegen die despotischen Herrschergruppen unterstützt werden. Vielleicht bietet der UN-Informationsgipfel ja doch eine große Gelegenheit, diese Demokratisierungsbewegung in Tunesien selbst weiter zu stuetzen. Wenn anschließend ein Buch wie das von Sehim Bensedrine und Omar Mestiri auf den Strassen von Tunis frei gekauft werden kann, wäre das ein nicht zu unterschätzender Erfolg.
Carl Wilhelm Macke
Sihem Bensedrine/ Omar Mestiri: Despoten vor Europas Haustür. Warum der Sicherheitswahn den Extremismus schützt. Aus dem Franzöischen von Ursel Schäfer. Verlag Antje Kunstmann, München, 2005, 222 S.